Long Covid: Welche Versorgungs- und Forschungsstrukturen braucht Berlin? – Fachgespräch der Koalitionsfraktionen
Chronische Erschöpfung, anhaltende Kurzatmigkeit oder fehlende Konzentrationsfähigkeit nach einer Infektion mit dem Coronavirus: In vielen Fällen bleibt es leider nicht bei der akuten Erkrankung, sondern Long- bzw. Post-Covid-Symptome verursachen langanhaltende – und zum Teil schwerwiegende – gesundheitliche Beschwerden. Um diese neuen Krankheitsbilder und die Versorgungs- und Forschungsbedarfe zu diskutieren, luden die gesundheitspolitischen Sprecher*innen der Koalitionsfraktionen Catherina Pieroth (Bündnis 90/Die Grünen), Bettina König (SPD) und Tobias Schulze (Die LINKE) am 29. Juni 2022 zur Fachveranstaltung „Long Covid“ ins Abgeordnetenhaus von Berlin ein. Zum ersten Mal kamen an diesem Abend Vertreter*innen aus Politik, Verwaltung, Wissenschaft und von Krankenkassen und kassenärztlicher Vereinigung sowie Ärzt*innen aus der stationären und ambulanten Versorgung in Berlin und Brandenburg, Betroffene und die interessierte Fachöffentlichkeit zusammen, um die Versorgungs- und Forschungsstrukturen angesichts von „Long/Post Covid“ zu diskutieren.
Was ist „Long Covid”? Hoher Forschungsbedarf zu einem neuen Phänomen
Was sind „Long- und Post Covid” genau? Und was ist neu an diesen Erkrankungen? Bereits die Antwortversuche auf diese grundlegenden Fragen zeigen die Schwierigkeit, vor der wir im Umgang mit „Long Covid“ gegenwärtig stehen: Vieles wissen wir schlichtweg noch nicht. In seinem Eingangsvortrag ordnete Staatsekretär Dr. Thomas Götz aus der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit, Pflege und Gleichstellung das Auftreten von „Long Covid“ nach der globalen Corona-Pandemie ein. Aus historischer Perspektive seien (virale) Spätfolgen nach Pandemien gut bekannt. Neu sei allerdings, dass „Long Covid“ deutlich mehr Aufmerksamkeit bekäme und intensiver beforscht werde als Spätfolgen nach anderen Pandemien. Zum ersten Mal gebe es noch während einer laufenden Pandemie großangelegte wissenschaftliche Studien – auch vorangetrieben durch Patient*innen selbst. Auch der Begriff „Long Covid“ habe sich beispielsweise aus der Betroffenenperspektive etabliert.
Allerdings ist der Begriff „Long Covid“ (noch) von einer Unschärfe geprägt, die die wissenschaftliche Debatte um das Phänomen bisher erschwert. Dr. Kirsten Wittke, Oberärztin am Fatigue Centrum der Charité, erläuterte die Begriffsdefinitionen der WHO. Demnach werden unter „Long Covid“ Symptome zusammengefasst, die länger als vier Wochen nach der Infektion fortbestehen. „Post Covid“ bezeichnet Symptome, die auch drei Monate nach der Infektion noch fortbestehen und zu Beeinträchtigungen im Alltag führen. Etwa zehn Prozent der mit dem Coronavirus infizierten Berliner*innen erkrankten an „Post Covid“, darunter vor allem junge Erwachsene, schätzte Dr. Wittke. Wiederum 10 Prozent von diesen Patient*innen entwickelten ein chronisches Fatigue Syndrom ME/CFS (also insgesamt ein Prozent). Wenn über „Long Covid“ gesprochen werde, sei meistens diese Gruppe der „Post Covid“-Erkrankten gemeint. Doch es gebe auch eine Reihe von anderen „Long Covid“-Symptomatiken, etwa nach langen Aufenthalten auf Intensivstationen, so Wittke. Um Betroffenen bestmöglich helfen zu können, seien eine differenzierte Begriffsklärung und genaue Diagnostik ebenso essentiell wie weitere Forschung, um die Erkrankung besser zu verstehen und wirksame Therapien zu entwickeln. Darin waren sich die Teilnehmer*innen der Fachveranstaltung einig.
Neue Netzwerkstrukturen für eine bessere Versorgung von Betroffenen
Dr. Judith Bellmann-Strobl, wissenschaftliche Leiterin der Fortbildungsreihe des Post-COVID-Netzwerkes der Charité und Oberärztin an der Hochschulambulanz für Neuroimmunologie, stellte die Arbeit des Post-COVID-Netzwerks der Charité vor und skizzierte ein Konzept für ein berlinweites Post-Covid-Netzwerk, das an der Charité entwickelt und bereits mit der Kassenärztlichen Vereinigung diskutiert wurde. Dr. Bellmann-Strobl machte deutlich, dass die Hausärzt*innen als primäre erste Anlaufstelle eine zentrale Rolle in der Versorgung von Long- und Post-Covid-Patient*innen spielten. Außerdem sei es wichtig, die Patient*innenselbsthilfe auf allen Ebenen mitzudenken und einzubeziehen und ausreichend psychotherapeutische Betreuungskapazitäten aufzubauen.
Die Notwendigkeit einer stärkeren Vernetzung teilte auch Dr. Christian Gogoll, Vertreter des Long-Covid-Netzwerks der Kassenärztlichen Vereinigung und niedergelassener Pneumologe in Berlin. Im Long Covid-Netzwerk der Kassenärztlichen Vereinigung wirken laut Gogoll rund 25 Praxen mit und tauschen sich unter anderem zu Therapie- und Fortbildungsmöglichkeiten aus.
In der Diskussion wurde neben der Notwendigkeit von weiterer Forschung und Forschungsfinanzierung im Bereich „Long Covid“ deutlich, wie essentiell es ist, dass das neu gewonnene Wissen die niedergelassenen Haus- und Fachärzt*innen schnell und zuverlässig erreicht. Die Fortbildungsreihe des Post-COVID-Netzwerks der Charité bietet bereits kostenlose Online-Kurse an, an denen auch niedergelassene Ärzt*innen aus dem gesamten Bundesgebiet teilnehmen. Doch darüber hinaus brauche es eine breite Qualifizierungskampagne von Erstversorger*innen, um Long- und Post-Covid-Patient*innen möglichst schnell und bestmöglich zu helfen.
Staatssekretär Dr. Thomas Götz betonte in diesem Zusammenhang noch einmal die soziale Dimension medizinischer Versorgung – denn mit einer Long- bzw. Post-Covid-Erkrankung stellten sich bei vielen Betroffenen plötzlich auch soziale Fragestellungen, die vorher als gesunde Menschen keine Rolle gespielt hätten. Hier könnten integrierte Gesundheitszentren, in denen gesundheitliche und soziale Aspekte zusammengedacht werden, ein Weg sein, Betroffene besser zu unterstützen. Mit Blick auf die zu erwartende nächste Corona-Welle im Herbst rief Dr. Thomas Götz zu Auffrischungsimpfungen auf: Jede Impfung bedeute einen besseren Schutz vor Long Covid gegenüber denjenigen, die nicht geimpft sind. Das gelte auch für Auffrischungsimpfungen.
Fazit der gesundheitspolitischen Sprecher*innen
Als Fazit des Abends hielten die drei Fachpolitiker*innen Bettina König (SPD), Catherina Pieroth (Bündnis 90/ Die Grünen) und Tobias Schulze (Die Linke) fest:
„Von Long/Post COVID ist eine erhebliche Anzahl von Menschen in Berlin betroffen. Wir müssen daher ihre Versorgungssituation schnell verbessern. Wir brauchen dafür: eine strukturierte Beratung der Betroffenen durch die Krankenkassen, die Hausärzt*innen und die Politik, eine umfassende Qualifizierung und Information der Hausärzt*innen durch die Kassenärztliche Vereinigung, eine Beratungs- und Unterstützungsstruktur zur Regelung der sozialen und rechtlichen Angelegenheiten der Betroffenen. Außerdem müssen ausreichend Gelder für die Intensivierung der Forschung zu Long/Post COVID bereitgestellt werden, denn noch ist zu vieles im Krankheitsbild unklar. Dafür werden wir uns gemeinsam einsetzen und das Thema eng begleiten, denn Betroffene dürfen jetzt nicht durch Politik und Gesellschaft allein gelassen werden.“