Rede von Silke Gebel zur Coronakrise in der Plenarsitzung vom 26. März 2020
Sehr geehrter Herr Präsident,
meine Damen und Herren,
unsere Stadt hat immer dann Stärke und Größe bewiesen, wenn es hart auf hart kam, wenn Zusammenhalt und Selbstlosigkeit gefragt waren. Die Berlinerinnen und Berliner haben schon viel gemeinsam erlebt, durchlitten – und gemeinsam überwunden.
Heute steht Berlin wieder vor einer Bewährungsprobe. Und erstmals haben wir es mit einem unsichtbaren, tödlichen Feind zu tun, der weder vor Alt noch Jung, vor Arm noch Reich, vor Alteingesessenen oder Neu-Berlinern Halt macht.
Das Erschreckende am Coronavirus ist seine Unsichtbarkeit. Die meisten Menschen können sich nicht wirklich vorstellen, was auf uns zukommt. Ein wenig ist es so, als riefe jemand in der Sahara: DIE FLUT KOMMT.
Aber es ist wichtig, dass alle das Unsichtbare sehen, das auf uns losrollt. Denn eine Pandemie wie Corona bekämpft nicht jeder für sich. Das Virus können wir nur gemeinsam als Gesellschaft und mit größter Entschlossenheit eindämmen. Es ist ein riesiger Akt der Solidarität, den wir uns abverlangen. Aber es ist unsere einzige Chance. Die Brutalität, mit der das Virus in Italien und Spanien Menschenleben fordert, muss uns eine Warnung sein. Wir haben nur ein paar Wochen Vorsprung. Diese müssen wir nutzen!
Wir müssen diese Krise entschieden anpacken: Menschenmöglich und verantwortungsvoll! Auch wenn manche immer noch ihr altes Lied singen: Genau das tut der Senat, allen voran der Regierende Bürgermeister Michael Müller – mit Entschlossenheit, aber auch besonnen ergreift diese Regierung alle nötigen Maßnahmen. Und dafür möchte ich an dieser Stelle Danke sagen!
Es ist eine historische Zäsur. Niemand weiß, wie dieses Kapitel endet. Wir Politikerinnen und Politiker haben eine Verantwortung wie selten zuvor. Diese Verantwortung beginnt damit, dass es in der Krise keinen Raum für politische Spielchen gibt. Ich weiß, dass dies für einige in der Berliner Landespolitik hart ist. Aber wir müssen jetzt alle – Koalition und Opposition – für die besten Lösungen streiten. Diese Verantwortung haben wir alle gemeinsam gegenüber den Menschen in dieser Stadt. Die Bekämpfung des Coronavirus ist größer als Parteiengezänk und Ränkespielchen, meine Damen und Herren.
Das Ziel ist klar: so viele Menschenleben retten, wie wir können. Und das geht nur, wenn wir die Zahl der Neu-Infektionen drastisch verlangsamen.
In der Krise muss die Exekutive schnell handeln. Aber wer glaubt, in einer Krise brauche es keinen Parlamentarismus, der irrt! Ich würde sogar sagen: Gerade in der Krise braucht es starke Parlamente. Und das nicht nur, weil wir gestern im Hauptausschuss bis zu 600 Millionen Euro an Soforthilfen für von der Coronakrise wirtschaftlich Betroffene und 53 Millionen für medizinische Notbeschaffungen freigemacht haben.
Nein. Es ist auch unsere Aufgabe, die Debatten aufzugreifen, die in unserer Stadt stattfinden und sie in diesem Haus fortzuführen. Gerade dann, wenn es keine Versammlungen in der Stadt gibt. Wir dürfen als Parlament der Exekutive nicht allein die Arbeit überlassen. Wir müssen sie mitgestalten!
Und deshalb ist es unsere Pflicht zu tagen!
Dass wir heute tagen, hat nicht nur mit der Coronakrise zu tun. Wir haben heute auch ganz normale Gesetze auf der Tagesordnung und wir haben eine Entschließung zum 18. März, dem Tag der ersten freien Wahl in der DDR im Jahr 1990. An diesem Tag wurde der Grundstein gelegt für ein wiedervereinigtes Deutschland und EIN Berlin. Bei allen Sorgen, die wir jetzt haben, sollten wir auch an dieses wichtige Ereignis denken. Es war der Beginn einer Demokratie und nicht zuletzt die Basis dafür, dass dieses Parlament überhaupt existiert.
Als Parlament ist es unsere Pflicht, die Exekutive zu kontrollieren. Maßnahmen müssen auch in der Krise immer verhältnismäßig sein. Wir haben in den letzten Wochen viel darüber gesprochen, was und wer alles systemrelevant ist und geschützt gehört. Lassen Sie mich das hier ganz deutlich sagen, meine Damen und Herren:
„Grundrechte sind systemrelevant“.
Die letzten 14 Tage waren auch von einem Wettbewerb unter den Bundesländern getrieben, wer die schärfsten Maßnahmen beschließt, um sich als besonders engagierter Krisenmanager zu präsentieren. Dies gilt nicht nur mit Blick in den Süden.
So will ich aber nicht Politik machen. Wir setzen uns auch im Senat dafür ein, dass Berlin nicht aktionistisch, sondern vernunftgeleitet regiert wird.
Wir leben aus gutem Grund in einem demokratischen Rechtsstaat. Totalüberwachung wie in China ist bei uns nicht möglich, und das ist gut so. Wir sollten deshalb genau hinschauen und aufpassen, dass die Maßnahmen nicht – ob aus Schnelligkeit oder Kalkül – über das Ziel hinausschießen.
Genau das betonen übrigens auch alle Wissenschaftler: Sie können nur Empfehlungen abgeben, aber abwägen und Entscheidungen treffen – das muss die Politik.
Es ist unsere Pflicht, auf Verhältnismäßigkeit zu pochen, und, wo es nötig ist, auch Widerspruch einzulegen und unsere demokratischen, freiheitlichen Errungenschaften verteidigen.
So sinnvoll die harte Eindämmungsstrategie gesundheitspolitisch ist – als Parlament müssen wir auch im Blick haben, dass die schwerwiegenden Folgen der Maßnahmen für Arbeitnehmerinnen, für Unternehmen, Künstler und Kreative, Selbstständige und viele weitere Gesellschaftsgruppen, so wie möglich aufgefangen werden. Mir bereitet einiges große Sorgen.
Diese Krise ist für viele Unternehmer in Berlin existenzbedrohend. Wir haben gemeinsam mit dem Senat ein gutes, schnelles Maßnahmenpaket auf den Weg gebracht – und möchte hier der Wirtschaftssenatorin Ramona Pop und Finanzsenator Kollatz danken. Aber im schlimmsten Fall verursacht die Coronakrise unzählige Insolvenzen, die kein Liquiditätsfonds und kein Kredit der Welt je wieder auffangen wird. Hier muss unsere Solidarität greifen: Für diese Menschen braucht es einen Rettungsschirm.
Was mich stark umtreibt, sind die Schwächsten in unserer Stadt, die unter den Ausgangsbeschränkungen am meisten leiden.
Die Ausgangssperren haben in China und Italien zu einer Verdreifachung der häuslichen Gewalt geführt. Damit das hier nicht passiert, müssen wir den Krisendienst ausbauen und betroffenen Frauen und Kindern schnelle Hilfe und eine sichere Zuflucht bieten!
In der Isolation vereinsamen Menschen. Deshalb ist es wichtig, dass auch die über 70-Jährigen wissen, dass sie rausgehen dürfen. Es gibt keine pauschale Zwangsquarantäne, wir dürfen keine Gruppen gegeneinander ausspielen. Und das ist gut so.
Nicht alle Eltern sind der neuen Aufgabe des Home Schooling gewachsen. Wir brauchen eine Lösung für diese Kinder, damit niemand in die Bildungsarmut rutscht. Sonst geht die soziale Schere noch weiter auf. Das dürfen wir nicht zulassen!
Die Corona-Maßnahmen verlangen uns allen viel ab. Genau deshalb beschäftigt uns die Frage: Wie geht es eigentlich weiter? Wann ist ein Ende der harten Einschränkungen und des Verzichts in Sicht? Ich war selbst gerade 10 Tage in Quarantäne und weiß, wie hart es ist, nicht raus zu dürfen. Und wie gleichwohl härter es ist, Kindern das Toben im Park zu untersagen.
Wir sollten uns vergegenwärtigen, dass wir erst am Anfang der Pandemie stehen. Wir haben zwar Hoffnung, dass die Maßnahmen ein leichtes Abflachen der Kurve bewirken. Das heißt aber leider nicht, dass die Infektionszahlen sinken. Sie steigen nur nicht mehr ganz so stark. Der Höhepunkt steht uns noch bevor. Aber wir arbeiten daran, die Kapazitäten des Gesundheitssystems entsprechend hochzufahren. Und daran, dass es mit Hilfe der Forschung endlich einen Impfstoff oder wenigstens zuverlässige Immunitätstests gibt.
Wir wissen nicht wie lange es dauern wird. Aber wir wissen, dass Leben Leben heisst. Deshalb ist es unsere Verantwortung jetzt die Zeit zu nutzen, um bald einen Plan zum behutsamen Wiederhochfahren der Stadt in Zeiten von Corona zu haben.
“Neue Wege in der Krise” – Dafür müssen wir das Land Berlin digitaler aufstellen. Denn ein handlungsfähiger Staat brauche eine starke Verwaltung. Und die leistet gerade Enormes. Insbesondere der öffentliche Gesundheitsdienst der Bezirke, der viele Tests bis in die Nachtstunden macht, verdient unseren Dank.
Aber auch hier zeigt sich, wie wichtig digitale Lösungen sind. Mit einer Software, die Verdachtsfälle schnell abgleicht, könnte einiges an Zeit gewonnen werden. Und angesichts vom notwendigen, flächendeckenden Home-Office der Berliner Verwaltung wird deutlich: Berlin muss da eine Schippe drauflegen. Dass nur 15% der Mitarbeiter*innen Laptops besitzen und es kaum sichere Leitungen gibt, lähmt uns als Staat. Es ist gut, dass das ITDZ mit Hochdruck an alltagstauglichen Lösungen arbeitet. Denn wir können nicht lange warten.
Trotz der Krise, gibt es gerade ein neues Gefühl der gemeinsamen Verantwortung in Berlin. Nachbarn helfen sich gegenseitig. Menschen hängen Spenden für Obdachlose an Gabenzäune. Und das sind nur zwei Beispiele für eine ganze Welle der Solidarität. Hilfsbereitschaft, diese gegenseitige Unterstützung, das ist der Kitt, der Berlin zusammenhält.
In diesen schweren Stunden sehen wir auch, wer die wahren Helden Berlins sind: Es sind die Ärztinnen und Krankenpfleger, die Rettungsdienste und die Polizei, die Lehrerinnen und Erzieher, die Verkäufer*innen an der Supermarktkasse und die Mitarbeiter von BVG, BSR, Wasserbetrieben und vielen mehr. Sie sind es, die seit vielen Wochen alles für uns geben. Sie halten unsere Stadt am Laufen und sie halten damit Berlin zusammen. Auf sie baut unsere Gesellschaft auch in Ausnahmesituationen. Das darf sich nicht nur in abendlichen Gesängen vom Balkon wiederspiegeln, sondern gehört auch auf den Gehaltszettel!
Unsere Solidarität darf aber nicht an der Berliner Stadtgrenze enden. Denn während wir uns zurückziehen können, uns mit Desinfektionsmitteln eindecken und regelmäßig unsere Hände waschen, können viele andere das nicht. Auf den griechischen Inseln, im Libanon oder der Türkei spielt sich Fürchterliches ab. Zu viele Menschen, die schon seit vielen Monaten unter katastrophalen Bedingungen und auf engstem Raum miteinander zu leben versuchen, sehen sich jetzt auch noch einer weiteren existentiellen Gefahr ausgesetzt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir dort einen Corona-Ausbruch erleben mit dramatischen Folgen. Deswegen müssen wir die Menschen jetzt da rausholen, müssen wir jetzt evakuieren, bevor es zu spät ist!
Sehr geehrte Damen und Herren, in der Krise zeigt sich der Charakter. Ich glaube fest daran: Am Umgang mit Krisen zeigt sich der Wesenskern einer ganzen Gesellschaft. Lassen sie uns dafür gemeinsam sorgen, dass Berlin gesund und solidarisch bleibt!
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