Rede von Silke Gebel zum Angriffskrieg auf die Ukraine in der Aktuellen Stunde vom 10. März 2022
*** Es gilt das gesprochene Wort ***
Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren, Ihre Exzellenz Herr Andrij Melnyk,
vor 14 Tagen kamen wir hier nur wenige Stunden nachdem Wladimir Putin seinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf die Ukraine gestartet hatte zum Plenum zusammen. Viele von uns waren fassungslos, konnten es nicht glauben.
Doch jetzt, 14 Tage später, sehen wir das Unvorstellbare. Wir sehen und lesen tagtäglich von Angriffen, von Toten, von 60 Kilometer langen russischen Militärkonvois vor Kiew, von Geburten in ukrainischen Luftschutzkellern, von Menschen, die in kalten U-Bahn-Schächten verharren. Wir sehen Angriffe auf Wohnhäuser, Krankenhäuser und Kindergärten. Bereits zwei Millionen verzweifelte Menschen mussten aus ihrer Heimat flüchten, Millionen leben weiter in Angst, leben weiter unter Beschuss. Die Lage wird von Tag zu Tag schlimmer. Und es ist kein Ende in Sicht. Diese 14 Tage haben unsere Welt verändert.
Und es wird jeden Tag deutlicher: Wie groß war die Naivität im Umgang mit Putins Russland. Der Versuch Türen zu öffnen wurde ausgenutzt, die demokratischen Kräfte im eigenen Land systematisch geschwächt und verfolgt. Extreme Kräfte auf der ganzen Welt fanden Unterstützung aus dem Kreml. Aber spätestens jetzt muss auch dem letzten klar sein: Putin ist ein Diktator, nichts anderes. Er dient nur sich selbst und schadet damit nicht nur der Ukraine, sondern auch seinem eigenen Land und den Menschen in Russland. Sein rücksichtsloses Handeln lässt sich nicht als Militäroperation beschönigen, nicht mit „Fake News“ schönreden, es ist ein grausamer Angriffskrieg und ein Bruch mit den universellen Menschenrechten und dem Völkerrecht. Und wir verurteilen ihn aufs Schärfste.
Und ich gebe zu: Mir macht das Angst! Wenn ich die Videos von den Kindern in den Bunkern dieser Welt sehe, dann sehe ich meine Kinder. Und ich spüre die Ungewissheit, die Machtlosigkeit angesichts einer russischen Regierung, die im Machtrausch sämtliche Verabredungen übergeht. Was die Frage aufwirft: Welches Tabu wird als nächstes gebrochen und was macht das mit dieser Welt und unserer Gesellschaft. Umso wichtiger ist es, dass wir nicht schweigen, sondern über unsere Ungewissheiten, Fragen und Ängste sprechen, sei es mit Freunden, der Familie und Nachbarn, in der Schule oder hier im Parlament. Und genauso wichtig ist auch das Zeichen der unglaublichen Solidarität, das 500.000 Menschen aus Berlin in die Welt geschickt haben. Unsere Botschaft in diesen Zeiten der Unsicherheit an die Ukrainerinnen und Ukrainer ist: Wir lassen euch nicht alleine!
Seine Exzellenz Herr Melnyk, Sie haben eindringlich das unbegreifliche Leid, die grausamen Angriffe russischer Truppen auf Befehl von Wladimir Putin geschildert. Ich bin Ihnen persönlich dankbar für Ihren unermüdlichen Einsatz in diesen schweren Tagen, für Ihre Informationen, Ihre eindringlichen Mahnungen und Ihren Mut, den Finger in die Wunde zu legen. Dafür verdienen Sie nicht nur Respekt, sie verdienen unsere Unterstützung.
Wir wissen auch um die besondere deutsche Verantwortung. Dass heute unter dem Vorwand der “Entnazifizierung” Menschen durch Raketen ermordet werden, in einem Land, das unter unseren deutschen Vorfahren unglaublich gelitten hat, und dass gerade an Orten wie Babyn Jar, wo unsere Vorfahren im September 1941 zehntausende jüdische Bürger*innen Kiews ermordeten, wieder Menschen durch Krieg sterben, erfüllt uns mit unendlichem Schmerz. Wenn wir heute sagen “Nie wieder!” und zeigen, dass wir aus der Geschichte gelernt haben, kann das nur heißen, der Ukraine heute mit allem, was uns möglich ist, beizustehen.
Doch, meine Damen und Herren, ich habe auch Hoffnung. Hoffnung wenn ich die Solidarität, die Kraftanstrengung, das Engagement der vielen Menschen in ganz Europa beobachte. Wenn ich sehe, wie schier unendlich die Hilfsbereitschaft der Berliner*innen ist, wie Menschen Tag und Nacht bei der Ankunft, Versorgung und Unterbringung von Geflüchteten helfen. Deswegen möchte ich einmal von Herzen Danke sagen. Danke an die unzähligen Menschen in dieser Stadt, in der Verwaltung, in den Hilfsorganisationen und natürlich die Ehrenamtlichen, die jeden Tag helfen und anpacken. Ohne Sie, ohne euch wäre dieser Ausnahmezustand, diese Herkulesaufgabe, die Berlin stemmen muss und stemmen wird, nicht zu leisten.
Bei allen Fragen und Verbesserungsvorschlägen: Das Signal, das wir aussenden, bleibt gleich: Wir werden alles dafür tun, den Menschen, die in Berlin ankommen zu helfen. Berlin ist und bleib Solidarity City. Und gerade in diesen schwierigen Zeiten bin ich von Herzen Europäerin. Die letzten zwei Wochen haben eindrucksvoll gezeigt warum. Das Zusammenstehen für humanitäre Hilfe, das Öffnen der europäischen Türen und Herzen zum Schutz der ukrainischen Bevölkerung ist ein starkes Zeichen: In diesen schweren Stunden stehen wir als Europäer*innen geschlossen zusammen, meine Damen und Herren.
Sogar Ungarn und Polen haben in den vergangenen Tagen ihre Türen geöffnet. Polen hat weit über eine Million Menschen, Ungarn nahezu 200.000 Geflüchtete aufgenommen. Putin wird uns und unsere europäischen Nachbarn nicht spalten. Auch dafür möchte ich ausdrücklich danken. Das macht mir Mut.
Dass wir uns nicht spalten lassen, das müssen wir nun jeden Tag aufs Neue beweisen. Daher lassen Sie mich eins an dieser Stelle auch einmal ganz klar und deutlich sagen: Es ist eine Schande, wenn jetzt zwischen “guten” und “schlechten”, zwischen “zivilisierten” und “unzivilisierten” Geflüchteten unterschieden wird. Unsere Grenzen stehen nicht nur für weiße Ukrainerinnen und Ukrainer offen, sondern für alle Schutzsuchenden. Egal welchen Glaubens sie sind, egal ob BPoC, LGBTIQ, ob Menschen mit oder ohne Pass. Sie alle haben ein Recht auf unseren Schutz. Sie alle brauchen unsere Hilfe und sie sollen sie bekommen. Lassen Sie uns gemeinsam dafür einstehen, meine Damen und Herren.
Klar ist: Es ist unsere Priorität die Aufnahme und Unterbringung nun zu organisieren und die erforderlichen Kapazitäten zu schaffen. Die Entscheidung, Tegel hochzufahren und gezielt Hostels anzumieten ist daher absolut richtig. Doch das ist nur der erste Schritt. Aktuell kommen besonders viele Frauen zu uns, viele von ihnen mit ihren Kindern. Diesen Kindern und Jugendlichen müssen wir jetzt schnell ein schulisches Angebot machen. Wir haben den Anspruch jedem Kind den Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Und das ab Tag 1. Wir haben den Anspruch, dass minderjährige Geflüchtete eine adäquate Betreuung bekommen, dass queere Menschen Schutzräume finden, dass Menschen mit Traumata auch psychologische Hilfe erhalten. Dahinter dürfen wir nicht zurückfallen, hier müssen wir liefern und zwar zügig.
Aber Berlin wird es nicht alleine schaffen. Es ist vor allem der Bund, es sind auch die anderen Bundesländer gefragt. Unser Motto ist “Refugees Welcome” und das leben wir auch. Aber wir können besser helfen, wenn wir uns gemeinsam unterhaken. Je mehr, desto besser: Dabei geht es nicht nur um eine Beteiligung des Bundes an den Kosten, es geht um Unterkünfte, Wohnungen, Schulen, Sprachkurse und Zugang zu Arbeit und gesellschaftlicher Teilhabe. Und es geht auch um die Situation am Berliner Hauptbahnhof, dem aktuellen Tor zu Europa. In den ersten 14 Tagen haben Ehrenamtliche und großartige Mitarbeiter der IAS Übermenschliches geleistet. Aber wenn man ehrlich ist, ist diese Koordination eine Bundesaufgabe. Und damit die Bundesregierung das auch in Gänze versteht, braucht es unbedingt einen Flüchtlings-Gipfel beim Kanzleramt, damit die Hilfe konkret wird.
Und, meine Damen und Herren, auch wenn es angesichts des großen menschlichen Leids schwer fällt: Wir müssen über unsere Abhängigkeit von fossilen Ressourcen in Deutschland und in Berlin sprechen. Hier sind in den vergangenen Jahrzehnten Fehler gemacht worden, die jetzt direkte Folgen für unser aller Sicherheit haben. Denn wer abhängig ist, ist auch erpressbar, meine Damen und Herren. Wer abhängig ist, finanziert den Krieg indirekt mit. Das müssen wir dringend ändern!
Deshalb ist es unerlässlich, dass wir diese Abhängigkeit, unsere Sucht nach Öl und Gas endlich beenden. Und das so schnell wie möglich. Auf Landesebene sind wir bereits wichtige Schritte gegangen. Dass der von uns begonnene Umbau der Stadt ebenso wichtig wie richtig ist, sollten jetzt auch die letzten Kritiker verstanden haben. Ob Solarpflicht oder Verkehrswende, mit den richtigen Maßnahmen nehmen wir Putin Stück für Stück sein wichtigstes fossiles Pfund aus der Hand.
Die steigenden Öl- und Gaspreise zeigen, gerade jetzt, wie wichtig es ist den Wärmesektor endlich zu dekarbonisieren. Dafür müssen wir auch endlich die Einführung des Erneuerbare-Wärme-Gesetzes beschließen. Keine neu eingebaute Heizung darf in Berlin mehr ohne Erneuerbare Energien betrieben werden. Dieses Gesetz muss kommen und ich hoffe hier auf die Unterstützung und das entschlossene Handeln aller Fraktionen.
Meine Damen und Herren, Wladimir Putin führt nicht nur einen Krieg gegen die Ukraine. Er führt einen Krieg gegen unsere gemeinsam geglaubten Werte als Staatengemeinschaft. Seit Jahren kämpft Putin gegen politische Gegner, gegen Menschenrechte und LSBTIQ, gegen eine Freie Presse und den Austausch zwischen den Kulturen. Seine willigen Helfer haben diesen Kampf und seine Propaganda auch in die EU, ja sogar hier in dieses Haus getragen.
Seit 14 Tagen leben wir nun in einer neuen Zeit. Und wir haben uns entschieden: Wir stehen an der Seite der Ukraine. Ich möchte es hier abschließend einmal deutlich sagen: Frieden für die Ukraine geht nur ohne Putin. Aber lassen Sie uns gemeinsam nicht vergessen, Putin ist nicht Russland und Russland ist nicht Putin. Mein Dank geht daher auch an die demonstrierenden Russ*innen – nicht nur bei uns in Berlin, sondern überall auf der Welt, und vor allem in Russland selbst. Und genau aus diesem Grund halte ich es für absurd Städtepartnerschaften nach Moskau zu kappen. Hier geht es auch um Begegnungen der Menschen und die sind die Keimzelle des demokratischen Miteinanders.
Den Menschen, die jetzt zu uns kommen, sagen wir ganz klar: Ihr seid hier sicher, wir stehen an eurer Seite! Denn Berlin ist und bleibt ein sicherer Hafen.