Was im Lockdown gebraucht wird: Ein Schutzschirm gegen häusliche Gewalt
von Silke Gebel – erschienen zunächst als Gastbeitrag in der Berliner Zeitung am 16. Dezember 2020
Deutschland geht wieder in den Lockdown. Das ist notwendig, um die Infektionszahlen zu senken. Damit möglichst alle diese Zeit gut überstehen, müssen aber wir aus den Erfahrungen aus dem Frühjahr lernen. Damals waren vor allem Kinder die Leidtragenden. Ohne Schulen, Kitas oder Freizeiteinrichtungen waren sie oftmals in kleinen Wohnungen „gefangen“. Gerade für Kinder die zu Hause Gewalt erleben, war das Wegfallen von sozialen Strukturen fatal. Die Zahl der Kindesmisshandlungen ist im ersten Halbjahr 2020 im Vergleich zum Vorjahr um 23 Prozent gestiegen. Kinder wurden mit Stöcken, Kabeln und Gürteln geschlagen, berichtet die Gewaltschutzambulanz.
Es hat bis zu sechs Monate gedauert, bis es wieder einen regulären Kita- und Schulalltag gab. Das darf diesmal nicht passieren. Die Bildungseinrichtungen haben heute Hygienekonzepte und ausgestattet mit Schnelltests können Infektionsgeschehen schneller eingedämmt werden. Das ist eine wichtige Grundlage für flächendeckende Bildungsangebote im Januar.
Der zweite Lockdown findet zur Weihnachtszeit statt, in der Gewalt in der Familie ohnehin einen traurigen Höhepunkt erreicht. Wir müssen deshalb diejenigen, die als Schutzschirm für die Kinder und Jugendlichen fungieren, stärken. Denn auf sie kommt es an, jetzt mehr denn je. Und ihnen gilt unser ausdrücklicher Dank.
Es braucht einen Corona-Notfahrplan für die Kinder- und Jugendhilfe und entsprechende digitale Ausstattung, damit auch aus dem Homeoffice gearbeitet werden kann und sichere Onlineberatung möglich ist. Es darf nicht sein, dass Gewaltvorfälle unentdeckt bleiben, weil Mitarbeiter des Jugendamts kein Diensthandy haben.
Auch Lehrerinnen und Lehrer können im Gewaltschutz eine Rolle spielen. Zum Beispiel, indem sie einen Notfallcode mit ihren Schülerinnen und Schülern vereinbaren, mit dem die Kinder kommunizieren: Bei mir zu Hause ist es gerade schlimm, ich brauche Hilfe. Das ist für Kinder niedrigschwelliger, als selbst die Polizei zu rufen. Klar ist aber auch: Lehrerinnen und Lehrer sind gerade besonders gefordert. Deshalb kann eine solche Vereinbarung nur ein Baustein eines Schutzschirms gegen häusliche Gewalt sein.
Ein Taz-Interview mit unser Fraktionsvorsitzenden Silke Gebel zum Thema gibts hier: Häusliche Gewalt im Lockdown – „Wir müssen alle hinschauen“
In Italien wurde während des ersten Lockdowns Gewaltschutzberatung direkt in Supermärkten angeboten. Das wäre auch bei uns sinnvoll, weil Supermärkte häufig zu den wenigen Orten gehören, an denen sich Opfer von Gewalt noch frei bewegen können. Die Polizei muss sich auf vermehrte Einsätze wegen häuslicher Gewalt einstellen und ihre Beamtinnen und Beamte noch stärker sensibilisieren. Der Rechtsstaat gilt auch im Lockdown und muss schnell unterstützen. Es ist deshalb gut, dass die Familiengerichte weiterlaufen und Gewaltschutzanträge bearbeiten.
Häusliche Gewalt trifft nicht nur Kinder, sondern auch Frauen. Jede dritte Frau in Deutschland ist mindestens einmal von physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen. Quer durch alle gesellschaftlichen Schichten, ebenfalls verstärkt im ersten Lockdown. Berlin hat mit einem neuen Frauenhaus, dem Child-Hood-Haus an der Charité und einer Erhöhung der Mittel für die Gewaltschutzambulanz viele Anlaufstellen für Opfer von häuslicher Gewalt geschaffen und bestehende Strukturen gestärkt. Das Ziel muss die Verstetigung dieses Schutzschirms sein – auch über die Zeit des Lockdown hinaus.
Das alles sind wichtige, vielleicht überlebenswichtige Maßnahmen, um Betroffenen akut zu helfen. Um Gewalt nachhaltig einzudämmen, müssen wir aber an die Täter ran. Deshalb haben wir als Parlament den Senat aufgefordert, Täterarbeit mit dem Ziel der Gewaltprävention verstärkt zu fördern und auszubauen. Damit Täter aufhören, Täter zu sein.
Doch klar ist: Wir sind alle gefragt im Kampf gegen häusliche Gewalt. Es braucht jetzt erneut eine große Kampagne, die Hilfsangebote bündelt und uns alle wieder und wieder auf das Thema aufmerksam macht: in Supermärkten, Apotheken, an Bushaltestellen. Denn je weniger Menschen wegsehen, desto mehr Menschen kann geholfen werden. Sei es im Supermarkt, auf der Straße oder in der Nachbarwohnung. Wir alle sollten die kostenlose Telefonnummer des Hilfetelefons gegen Gewalt an Frauen, 08000 116 016, speichern. Denn jede und jeder von uns kann ein Teil des Schutzschirms sein.