Gemeinsam Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft aus der Pandemie führen – Plenarrede von Silke Gebel
Plenarrede von Silke Gebel zur Regierungserklärung von Michael Müller in der Plenarsitzung am 7. Januar 2021
*** Es gilt das gesprochene Wort ***
Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrte Damen und Herren,
2020 war ein Krisenjahr. In jeder Hinsicht. Zu viele Menschen sind krank geworden, zu viele sind gestorben, zu viele haben einen geliebten Menschen verloren. Für 2021 wünschen wir uns vor allem Gesundheit, aber auch endlich wieder ein bisschen Normalität.
Das neue Jahr ist gerade mal eine Woche alt und bietet uns Hoffnung und Sorge gleichermaßen. Das Coronavirus hat uns weiter im Griff und die Zahlen sind beunruhigend: Immer noch erkranken zu viele Menschen viele mit schweren Verläufen. Die Fallzahlen in Großbritannien explodieren aufgrund einer Virus-Mutation. Und die Belegung von Intensivbetten mit Corona-Patient*innen steigt alarmierend. Allein im Dezember sind mehr Menschen an Corona gestorben als in allen vorherigen Pandemie-Monaten zusammen und das Pflegepersonal steht kurz vorm Kollaps. Um diese Entwicklung zu stoppen oder wenigstens zu dämpfen, müssen wir gemeinsam noch einmal alle Energie darauf verwenden, Lösungen zu finden, um dieser Pandemie Herrin zu werden und die Zahl an Neuinfektionen drastisch zu senken.
Gemeinsam ist das Gebot der Stunde! Eine Krise bewältigt man nicht durch parteipolitische Profilierung. Im Gegenteil. Auch wir als Abgeordnete sind verpflichtet, gemeinsam Lösungen zu finden, um als Gesellschaft so unbeschadet wie möglich aus dieser Ausnahmesituation herauszukommen. Die Leute erwarten von uns, dass wir die Ärmel hoch krempeln und diesen Coronamist in den Griff bekommen. Das ist unsere Pflicht und genau das sollten wir alle tun!
Und genau so entschlossen sollten wir auch das Impfen angehen. Es ist der Hoffnungsschimmer in dieser schweren Zeit. Für 22.000 Berlinerinnen und Berliner wurde er ganz konkret. Kleiner Pieks, riesige Wirkung! Und auch, wenn die Impfkampagne schleppend beginnt, teile ich die Vorwürfe gegenüber der EU Strategie nicht. Im Gegenteil: Es ist eine gigantische Leistung, dass binnen 10 Monaten serienreife Impfstoffe gefunden, zugelassen und produziert wurden. Nach der gestrigen Zulassung von Moderna, steht neben Biontech ein weiterer Impfstoff zur Verfügung. Was für ein Kraftakt. Das ist ein großartiger Innovationsschub der Wissenschaft und der Unternehmen.
Wer aber glaubt, man hätte das alles schon vor einem halben Jahr vorhersehen und dementsprechend besser steuern können, der irrt! Vor einem halben Jahr haben wir noch über ganz andere Hersteller gesprochen und deshalb war es richtig, eine Diversifizierung der Impfstoffe und damit eine Risikostreuung anzugehen. Und es ist doch absurd, eine globale Pandemie nach dem Motto “Germany First” bekämpfen zu wollen! Viren machen nicht vor Landesgrenzen halt. Deshalb war und ist eine europäische Lösung immer richtig. Und jede und jeder, der hier anderes behauptet, begibt sich auf die gefährliche Straße des Populismus. Das ist aber eine Sackgasse und eine brandgefährliche in Zeiten der Krise noch dazu!
Aber zurück nach Berlin. Wir sind ja Landespolitiker. Und als solche haben wir die Hausaufgaben in weiten Teilen gemacht, die Impfzentren stehen, die Hilfsorganisationen sind bereit, die Freiwilligen sind eingeteilt und die Briefe gedruckt. Die Mobilen Impfteams arbeiten ohne Unterlaß in den Pflegeeinrichtungen und die Krankenhäuser bekommen auch die ersten Chargen. Ich nehme einen großen Impfwillen in Berlin wahr, viele Leute fragen mich, wann sie oder ihre Lieben endlich dran sind. Das ist gut, denn nur, wenn sich mindestens siebzig Prozent der Bevölkerung impfen lässt, werden wir diese Pandemie nachhaltig besiegen. Ansonsten hangeln wir uns weiter von Lockdown zu Lockdown. Und das kann doch niemand ernsthaft wollen, meine Damen und Herren.
Verstehen Sie mich nicht falsch. ich finde es richtig, dass wir angesichts der weiterhin sehr angespannten Situation noch weiter im Lockdown bleiben. Ich bin explizit dafür, dass wir weitere Maßnahmen ergreifen, die deutlich machen, dass es an jeder und jedem liegt, alle Kontakte und auch die eigene Mobilität auf ein absolutes Minimum einzuschränken. Ich selbst habe hier vor Weihnachten für Reisebeschränkungen plädiert. Und ich finde, die MPK hätte zudem eine klare Homeofficepflicht überall dort, wo es möglich ist, beschliessen müssen. Hier erwarte ich auch, dass Arbeitgeber*innen ihrer Verantwortung gerecht werden und Heimarbeit ermöglichen!
All die Maßnahmen, die wir beschließen, stehen und fallen mit der Akzeptanz und der Anwendung in der Bevölkerung. Die aufkommende Lockdown-Müdigkeit macht mir deshalb Sorgen.
Wir müssen jede Lockdown-Maßnahme auf ihre Akzeptanz und Wirksamkeit überprüfen. Ich trage den Beschluss des Senats in allen Punkten mit, bis auf einen: Ich finde es falsch, dass bei den Kontaktbeschränkungen von der bisherigen Berliner Linie abgewichen wurde und jüngere Kinder nun doch mitgezählt werden. Immerhin wurden Alleinerziehende ausgenommen. Aber es trifft trotzdem viele Familien, die sich sehr solidarisch in der Bekämpfung der Pandemie zeigen und es hat eine falsche Steuerungswirkung. Ich will es an einem Beispiel zeigen, was für viele Familien steht: Eine Mutter von zwei Kita-Kindern hat mir geschrieben, dass sie mit der Nachbarsfamilie, die auch zwei Kinder hat, im Wechsel auf die Kinder aufpasst, damit die Kinder nicht in die Kita müssen und dort die Anzahl der Kinder weniger wird. Die Regel des Senats erlaubt das nicht mehr. Das heißt, im Zweifel gehen die Kinder dann doch in die Kita. Hier müssen wir meiner Meinung nach von unserem Recht, als Parlament nachzusteuern, Gebrauch machen.
Und ja, ich nehme den Bundesgesundheitsminister beim Wort, wenn er sagt, bis zum Sommer werden alle die Möglichkeit haben sich gegen Corona impfen zu lassen. Das ist ein wichtige Perspektive. Es sind 6 Monate, die wir überbrücken müssen. Bisher nutzen wir dafür nur den Lockdown als Instrument. Das reicht aber nicht aus. Wir brauchen eine Brücke bis zur Durchimpfung unserer Gesellschaft. Eine Brücke hat mehrere Pfeiler, damit sie stabil steht. Ein Pfeiler heisst Lockdown, ein anderer Hygieneregeln, ein weiterer Abstand und Maske. Und klar heißt einer PCR-Tests und Kontaktnachverfolung. Wir brauchen einen neuen Pfeiler, der aus Schnelltests besteht. Aus einer nationalen Schnellteststrategie mit Selbst- oder Heimtests, regelmäßige Massentestungen, einer Schnittstelle zur Corona-Warn-App und dem Einsatz in Bildungs- und Pflegeeinrichtungen.
Ich bin fest davon überzeugt, wenn diese Pandemie rum ist, dann schauen wir zurück und sagen: Das mit den FFP-2-Masken hätten wir früher klar haben müssen und das mit den flächendeckenden Schnelltests. Und deshalb sage ich heute: Lassen Sie uns das jetzt einfach tun!
Ich möchte, dass der Alltag von uns allen so aussieht: Morgens aufstehen, Im Zweifel testen, Zähne Putzen, Frühstücken und wenn man raus muss, mit Maske. Sollte es ein positives Testergebnis geben, wird das in die Corona-Warn-App als positives Schnelltestergebnis eingetragen und das lokale Gesundheitsamt über die App informiert. Wir haben das technische Tool zur Pandemiebekämpfung. Lassen Sie es uns doch einfach nutzen!
Weil die Frage jetzt mehrfach an mich gestellt wurde: Kann man das wirklich selber und wie sicher ist das Ergebnis? Die neusten Modelle werden aus der vorderen Nase entnommen, das ist also wirklich kein Problem, das ist sehr benutzerfreundlich. Das Ergebnis ist natürlich nur eine Momentaufnahme wie jeder Test, und selbst wenn am Ende von 5 positiven Fällen nur 4 entdeckt werden, beim Nicht-Testen werden 0 entdeckt. Das finde ich im Monat 11 der Pandemie nicht ausreichend. Da müssen wir besser werden.
Wir müssen dahin kommen, dass wir allen Berlinerinnen und Berlinern zu einem Stichtag Schnelltests zukommen lassen, um ein echtes Screening zu machen. So finden wir viele unentdeckte Coronafälle und können Schnelltests als zweiten Hammer auf die Coronakurve schlagen. Bis dahin müssen wir mindestens jedem Lehrer und jeder Lehrerin, jedem Erzieher und jeder Erzieherin kostenlos Schnelltests zur Verfügung stellen. In den Pflegeheimen klappt das schon gut. Da müssen wir auch in der Bildung hin!
Aber obwohl es die Technologie des Schnelltestens gibt, dreht sich seit Wochen die Frage, wer darf denn nun Testen im Kreis. Und solange es nicht unbürokratisch geregelt ist, findet es kaum strategische Anwendung. Stattdessen schießen unkontrolliert Schnelltestbuden an allen Stellen aus dem Boden. Ich finde das unmöglich. Ich fordere Bundesgesundheitsminister Jens Spahn dringend auf, Selbsttests endlich zuzulassen. Da hoffe ich auch auf Ihre Unterstützung, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, die ja über ihre Partei auf die Bundesregierung Einfluss nehmen können. Helfen Sie uns, dass die Schnelltests zur Selbstanwendung endlich kommen.
Unser aller Ziel ist doch, die Inzidenz auf ein Niveau zu drücken, bei dem die Gesundheitsämter wieder in die Lage versetzt werden, die Kontaktnachverfolgung, das Tracing, auch wirklich leisten zu können. Das ist wichtig, um die Verbreitung des Virus in der Bevölkerung einzudämmen. Denn jeder Tag Schulschließung ist ein Tag mehr, an dem wir riskieren, dass Kinder und Jugendliche zurückbleiben. Dass sie zu Hause Gewalt erfahren, körperlich oder psychisch, oder dass sie den schulischen oder sozialen Anschluss verlieren. Schulen und Kitas sind nicht nur Lernräume, sie sind auch Schutzräume!
Deshalb müssen wir alles daran setzen, dass ihr Betrieb wieder sicher möglich wird. Nochmal: Der Lockdown ist derzeit für die Eindämmung der Pandemie wichtig. Aber der Lockdown fordert auch einen sehr großen Tribut.
Schon im ersten Lockdown ist die Zahl der Straßenkinder, gerade der ganz jungen – teilweise gerade mal 13 Jahre alt – krass gestiegen. Auch die Zahl der Gewaltvorfälle in den Familien steigt:Das ist ein Preis des Lockdowns, den ich nicht bereit bin zu zahlen. Das dürfen wir so nicht laufen lassen, meine Damen und Herren! Hier muss Politik die Familien unterstützen und Betroffene schützen.
Wir brauchen ein Bekenntnis von Bezirken und Land – Hand in Hand gegen Gewalt. Deshalb sind wir alle gefordert – in allen Senatsverwaltungen, aber auch in allen Bezirksämtern – dafür zu sorgen, dass es einen Schutzschirm für Kinder und Jugendliche gibt, die Jugendämter personell und digital gestärkt werden, die Schulen auch im Lockdown ausreichend Kontakt zu den Kinder und Jugendlichen halten, eine niedrigschwellige Gewaltschutzberatung gibt und eine Infokampagne an jedem Ort, an dem Menschen in der Pandemie noch verkehren.
Speichern Sie sich die 08000 116 016 ein. Das ist die Nummer des Hilfetelefons gegen Gewalt. Jede Berlinerin und jeder Berliner sollte diese Nummer genau wie die übrigens von der Kältehilfe im Handy haben, meine Damen und Herren.
Jeder Tag Lockdown bedeutet ein weiterer Tag, an dem die Schere zwischen denen, die lernen können und denen die nicht lernen können, größer wird. Und diese Schere ist in Berlin ja eh schon groß. Zu groß.
Aber auch in der Pandemie dürfen wir den Anspruch nicht aufgeben, dass jedes Kind zum Bildungserfolg kommt. Was glauben Sie, was geschlossene Schulen für die Kinder bedeuten, die schon im Normalzustand nur mit Ach und Krach einen Abschluss schaffen? Deshalb ist in der Abwägung zwischen Infektionsschutz und Recht auf Bildung der langsam beginnende Wechselunterricht an Grundschulen ab dem 18.01 unter strengen Hygieneregeln richtig. Dafür brauchen wir neben den bereits erwähnten und ganz zentralen Schnelltests auch kostenlose FFP2-Masken und endlich Luftfilteranlagen in allen Bildungseinrichtungen. Das THW hat angeboten, diese einzubauen. Dieses Angebot sollten wir dankend annehmen!
Und wir sollten die Hoffnung in der Pandemie nicht verlieren und die Zeit auch nutzen, um pädagogische Angebote zu verbessern. Wir müssen Schule doch eh neu denken. Vielleicht schaffen wir es so, in kleineren Gruppen mehr Kinder und Jugendliche zum Lernen zu bringen. Das Konzept der Lernbrücken ist zum Beispiel ein super wichtiger Baustein, der hilft, dass kein Kind verloren geht. Davon brauchen wir mehr!
Was mir noch Sorgen macht, ist dass viele Menschen in dieser Stadt gerade in die Existenzkrise schlittern. Wir sind die Stadt der Soloselbstständigen, die besonders hart von Corona getroffen sind. wir haben 100.000 Menschen in Kurzarbeit und 200.000, die erwerbslos sind. Das sind keine anonymen Zahlen, sondern dahinter stehen konkrete Menschen. Das sind dann sehr konkrete Einschränkungen. Und am Ende des Jahres liegen eben nicht nur weniger Geschenke unterm Weihnachtsbaum, sondern Menschen gehen an ihre Altersvorsorge oder Rücklagen. An diese Menschen denke ich, wenn wir die Wirtschaftshilfen konzeptionell aufstellen und weiter dafür kämpfen, dass sie schnell abfließen.
Corona nervt. Total. Ich hätte auch nie gedacht, dass ich meinen Kindern Pandemieregeln und den Unterschied zwischen Wechselunterricht, Distanzunterricht und Notbetreuung statt Skatregeln beibringen muss. Aber lassen wir uns davon nicht unterkriegen. Denn es ist zentral, um weniger Coronainfektionen und damit weniger Todesfälle zu beklagen zu haben.
Aber es gibt noch was: Denken Sie an die, die kein intaktes Zuhause haben. Die darauf angewiesen sind, dass sie sich in einer Mall vom Schneematsch aufwärmen können. Die darauf angewiesen sind, dass sie in der Schule sind und keine Prügel bekommen. Denken Sie an die, die ihre wirtschaftliche Existenz und ihr Lebenswerk verloren haben. Die sind durch den Lockdown extrem hart getroffen und sind darauf angewiesen, dass es schnell vorbei geht. Vor allem müssen wir an sie im Lockdown denken und Hilfestellungen bieten.
Und denken und danken wir denen, die bei der Bekämpfung dieser Pandemie ein großes Risiko eingehen, als Pflegepersonal und Ärzt*innen, an der vordersten Front stehen.
Meine Damen und Herren, diese Pandemie wird wahrscheinlich nicht die letzte sein, die wir erleben. Auch das gehört zur Wahrheit dazu. Die Klimakrise und ihre Folgen für Mensch und Natur, werden uns noch manch unangenehme Überraschungen bringen. Deshalb dürfen wir neben der Anstrengung im Kampf gegen die Pandemie den Kampf für besseren Klimaschutz nicht aus den Augen verlieren. Ähnlich wie die Bewältigung der Coronakrise gelingt auch die Bewältigung der Klimakrise nur gemeinsam. Und ganz nach dem Motto “Fight every crisis” muss unsere Lehre aus dieser Krise sein, Berlin zu einer krisenfesten Stadt zu machen, mit einer guten sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur, die all das, was ihr bevorsteht, mit Resilienz, Innovationskraft und Zuversicht meistert!