Grüne Europawochen: Ungarn – ein Land voller Widersprüche und Hoffnung
Der Brexit macht in diesen Tagen wieder deutlich wie uns Nationalismus und Europafeindlichkeit in eine große Unsicherheit stürzen. Wir Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus verstehen uns als Gegenpol dazu. Aus diesem Grund rufen wir im April und Mai unsere grünen Europawochen ins Leben. Unter dem Motto “Wir für Europa” zeigen wir Landespolitiker*innen Flagge für eine klar proeuropäische Haltung. Benedikt Lux stellt hier Ungarn vor – für ihn eins der faszinierendsten Länder überhaupt, denn es ist voller Widersprüche und Hoffnung. Deutschland und Ungarn verbindet eine enge Geschichte. Er findet: Die Pro-Europäer*innen sollten sich trotz Orbán und der rückwärtsgewandten Regierungspolitik der Visegrád-Gruppe nicht von dem Land abwenden, sondern es versuchen zu verstehen, es schätzen und sich austauschen.
Ungarn ist ein faszinierendes Land, das mich sofort in seinen Bann gezogen hat. Die Hauptstadt Budapest, ein Großstadtdschungel mit vielen wilden Ecken, die an das Berlin in der Nach-Wende-Zeit erinnern, plus eine kaiserliche und königliche Architektur, die im preußischen Berlin nicht übertroffen wird. Dazu die zweitälteste U-Bahn Europas und prächtige Thermalbäder, wie geschaffen zur Erholung nach einer langen Nacht.
Zugegeben, das erste Mal in Ungarn war ich vor allem junger, privilegierter Tourist in den 2000er Jahren, auf Abi-Fahrt am Balaton, geblieben sind nur wenige Erinnerungen daran. Mein zweiter Besuch kurz danach war auf dem Sziget-Festival, ein supergutes Musikfestival auf einer Insel in der Nähe von Budapest, wo ich mit meiner damaligen Band einen kurzen Auftritt hinlegen durfte. Mein Freund vermittelte mir, dass eine Eintrittskarte ungefähr ein halbes ungarisches Lehrergehalt wert war. Das nächste Mal in Ungarn als Student und Rechtsreferendar noch etwas wilder, aber jüngst im letzten Jahr brav und erfüllt auf Familienurlaub; wieder am Balaton, kinderfreundlich und Richtung Landesinnere mit wunderschöner Natur.
Politisch glaube ich, dass Ungarn – trotz aller Spannungen – immer Teil eines demokratischen Europas souveräner Staaten sein wird. Teil der ungarischen Geschichte ist die Besatzung durch das Osmanische Reich zwischen den Jahren 1525 und 1686. Der Nazi-Terror in Ungarn und Europa ist noch keine hundert Jahre her. Von 825.000 Jüdinnen und Juden in Ungarn überlebten nur 265.000 den Nazi-Regime. Wie ein Wunder, für das Deutschland dankbar sein muss, leitete sich 1989 in Ungarn die Geburtsstunde des heutigen Europas und des wiedervereinigten Deutschlands ein. Von dort aus wurde der Eiserne Vorhang geöffnet. Es macht traurig, dass die ungarische Regierung heute mehr Abschottung und Feindbilder sucht, aber: Ungarn ist bestimmt nicht nur Orban. Der ungarische Grenzzaun im völligen Niemandsland wirkt, genau wie die Grenzen, die in einigen Köpfen herrschen, wie aus der Zeit gefallen.
Als ich letztes Jahr mit meiner Familie vom Balaton die 50 Kilometer an die kroatisch-ungarische Grenze tuckerte, erstreckte er sich aus dem Nichts und so weit das Auge reichte. Dahinter fließt die Drava und bietet eine der vielfältigsten Biosphären Europas und wird daher auch als Amazonas in Europa vermarktet. Jedenfalls habe ich noch nie so viele unterschiedliche Schmetterlinge auf so engem Raum gesehen und freute mich beim Joggen von Raubvögeln begleitet zu werden und an kilometerlangen Hanffeldern vorbeizulaufen, bevor da so ein komischer Zaun alles teilt.
Aus dem Nichts tauchte auch bei der Einreise im letzten Jahr ein ungarischer Grenzposten auf. So werde ich nie vergessen, wie am Schlagbaum die Grenzbeamtin vor unser Auto trat, mit strengem Blick auf die Rücksitze blickte, die Pässe vorhielt und meine Frau und mich zu der Frage vernahm, welche unserer damals sechs Monate alten Zwillingsmädchen denn genau welche ist. Ein Jammer, dachte ich, dass für uns dieser Zaun so leicht zu überwinden ist, während junge Eltern, die mit ihren Kindern vor Krieg und Vertreibung fliehen müssen diese Hürde vielleicht nicht überwinden können. „Jetzt erst recht!“ dachte ich, „Widersprüche und Hoffnung liegen in Europa und auch hier in Ungarn.“ Gerade aus diesem Grund müssen wir uns einem gemeinsamen Europa zu- statt abwenden. Deshalb ist die Wahl am 26. Mai von so großer Bedeutung.
Dieser Artikel ist Laurent Kruppa gewidmet.