Rede von Antje Kapek zur Aktuellen Stunde in der Plenarsitzung vom 25.02.2021
Es gilt das gesprochene Wort. Die Rede von Antje Kapek zur Aktuellen Stunde „Ein Jahr nach Hanau: Berlin kämpft gegen jede Form von Rassismus“ in der Plenarsitzung vom 25.02.2021 als PDF: 20210225_Rede_Kapek_Hanau.pdf
Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrte Damen und Herren,
alleine, dass die AFD in deutschen Parlamenten sitzt, ist ein Schlag in das Gesicht aller Opfer von rechtsextremen Anschlägen und ein Beweis dafür, dass Deutschland ein enormes Rassismusproblem hat. Dass Sie hier immer wieder versuchen Rassismus salonfähig zu machen, bietet genau den Nährboden für rassistische und rechtextreme Attentate – wie das in Hanau.
Genau deshalb muss der Kampf gegen Rassismus auch hier aus diesem Saal heraus geführt werden. Auch wenn so gut wie niemand von uns hier weiß, was es bedeutet, wenn man in dem Land, in dem man geboren wurde – in seinem Zuhause – von Geburt an ausgeschlossen, systematisch diskriminiert und sogar bedroht wird. Weil man von Einigen immer als “anders” markiert, als “weniger wertvoll” betrachtet oder verleumdet wird.
Wenn man ständig Angst vor Anfeindungen haben muss. Oder, wenn man, wie in Hanau am 19. Februar 2020, zur Zielscheibe von rechtsextremer Ideologie wird und das mit dem Leben bezahlt.
Der rechtsextreme Attentäter von Hanau hat zehn Menschen getötet, neun von ihnen aus rassistischen Motiven. Keine sogenannten Fremden. Keine sogenannten Ausländer. Sondern neun Hanauer*innen. Diese neun Morde waren kein Einzelfall. Sie reihen sich ein in die Liste der Anschläge von Halle, Solingen, Mölln, Rostock, Chemnitz und die Anschläge des NSU – sie alle gehören zur grausamen Chronik rechten Terrors in Deutschland. Und deshalb sagen immer mehr People of Color: “Es reicht!”. Und das mehr als zu Recht. Dem müssen wir uns anschließen. Es ist unsere Pflicht als Demokrat*innen alles dafür zu tun dem ein Ende zu setzen.
Denn jeder Mensch hat das Recht auf ein sicheres Leben. Dass dieses Recht nicht immer und für jeden durchgesetzt wird zeigt, dass in diesem Land etwas sehr kaputt ist. Unser Rechtsstaat krankt, weil er nicht alle Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen schützt. Und das in dem Land, das sich jedes Jahr aufs Neue #NieWieder auf die Fahnen schreibt. Das macht mich verdammt wütend.
Dabei ist besonders erschütternd: Weder der Anschlag von Hanau, noch die NSU-Mordserie oder die Anschlagsserie in Neukölln wurden bis heute vollständig aufgeklärt. In Hanau mussten die Familien der Opfer sogar noch selbst dafür kämpfen, dass in den Mordfällen ihrer Kinder überhaupt ermittelt wurde. Schlimmer noch: Sie wurden sogar selbst als “Gefährder” behandelt und die Arbeit der Polizei wirft bis heute Fragen auf. Das ist ein Skandal, meine Damen und Herren.
Rassismus trifft uns nicht alle, aber er betrifft uns alle. Es reicht nicht, nur Kränze an Gedenktagen abzulegen. Es muss immer Widerspruch und Solidarität geben, wenn jemand rassistisch beleidigt, bedroht oder angegriffen wird. Egal ob im U-Bahnabteil, im Supermarkt, im Club oder auf dem Schulhof. Der Kampf gegen Rassismus darf nicht nur denen überlassen werden, die ihn erleiden. Nein, der Kampf gegen Rassismus muss von allen geführt werden. Jeden Tag und überall. Denn Hanau ist überall, Hanau hätte auch Berlin sein können! Das zu verhindern, ist unser aller Pflicht!
Rassismus ist ein strukturelles Problem. Deshalb müssen wir auch genau da ran: an die Strukturen. Sei es die öffentliche Verwaltung, unsere Sicherheitsbehörden oder das öffentliche Leben. In einem Land, in dem sich nicht alle sicher fühlen können, gehört alles auf den Prüfstand, damit rassistische oder rechtsextreme Tendenzen gezielt bekämpft werden können.
In Berlin brauchen wir dafür eine Enquete-Kommission “Rassismus-Bekämpfung”, die rassistische Strukturen entlarvt und Handlungsempfehlungen erarbeitet. Und das gleich zu Beginn der nächsten Legislatur.
Und wir müssen endlich konkret werden! Jede dritte Berliner*in hat einen sogenannten Migrationshintergrund. Auch deshalb ist es so wichtig, dass wir das Partizipations- und Integrationsgesetz überarbeiten. Wer in diesem Staat lebt, muss sich auch in seinen Institutionen wiederfinden können. Deshalb sollten eben nicht nur Gabi und Klaus in der Verwaltung arbeiten, sondern auch Özlem und Okpomo.
Rot-rot-grün ist in den vergangenen Jahren erste Schritte gegangen, um etwas von dem Vertrauen in Polizei und Justiz zurückzugewinnen, das durch unterlassenes oder fahrlässiges staatliches Handeln in den letzten Jahren verloren gegangen ist.
Die Antisemitismusbeauftragte bei der Generalstaatsanwaltschaft, die Beratungsstellen für Opfer von Gewalt und Diskriminierung oder die „Zentralstelle Hasskriminalität” bei der Staatsanwaltschaft sind einige Beispiele hierfür. Und die Expert*innenkommission zu antimuslimischem Rassismus fügt sich in unsere Antidiskriminierungspolitik ein, die sich auch dadurch auszeichnet, zivilgesellschaftliche Expertise systematisch einzubeziehen.
Wir kommen aber nicht voran, wenn wir es nicht schaffen, rechte Gewalt systematisch zu bekämpfen und aufzuklären. Das gilt auch für uns in Berlin!
70 Straftaten zählt die rechtsextreme Anschlagsserie in Neukölln – und keine einzige Verurteilung. Das ist ein fatales Signal: Nämlich dass sich Neonazis hier sicher fühlen können, die Opfer und Menschen, die sich gegen Rechts engagieren, aber weiterhin in Angst leben müssen. Auch das ist ein Skandal! Weder wurden die Anschläge bislang ausreichend aufgeklärt, noch die rechtsextremen Straftaten und Netzwerke auch innerhalb der Polizei untersucht. Gut, dass das jetzt nachgeholt wird.
Ich erwarte dann aber auch eine lückenlose Aufklärung der Frage, ob es undichte Stellen in der Polizei und Verbindungen zu Rechtsextremen gab und wie weit das Neonazi-Netzwerk in Neukölln reicht. Alle Fragen, die unbeantwortet bleiben, müssen im Anschluss von einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss beantwortet werden.
Unser Rechtsstaat darf nicht länger die Augen vor rechtsextremen Straftaten verschließen. Das gilt auch für den Verfassungsschutz. Wenn Informationen aus der Behörde, die unsere freiheitliche demokratische Grundordnung schützen soll, in Chatgruppen der AfD und auf dem Tisch von Verdächtigen landen, dann ist das nicht nur erschreckend, nein, es ist eine Gefahr für genau jene freiheitliche demokratische Grundordnung und eine Gefahr für Menschenleben, meine Damen und Herren!
Das gleiche gilt für den Bund: Statt endlich die mehr als überfällige bundesweite Vernetzung und Überprüfung der Sicherheitsbehörden einzuleiten, spricht Horst Seehofer davon, dass die “Migration” die Mutter aller Probleme sei und behauptet, der Attentäter von Hanau sei ein Einzeltäter ohne Ideologie. Damit liefert er ein Musterbeispiel dafür, wie rechter Terror immer wieder verharmlost wird. Ein Schlag ins Gesicht für alle Opfer.
Meine Damen und Herren, es gibt über 200 Tote durch rechte Gewalt seit 1990. Die Dunkelziffer ist noch größer. Hunderte Stühle, die bei Familienfeiern leer bleiben, hunderte Gräber, die von Eltern, Geschwistern, Freundinnen besucht und beweint werden, tausende Hinterbliebene, die das Vertrauen in den Staat, in dem sie leben, verloren haben. Ich möchte Sie heute um Entschuldigung bitten. Dafür, dass wir die Leben Ihrer Lieben nicht ausreichend geschützt haben. Dafür, dass wir ihre Morde nicht lückenlos aufgeklärt haben und dafür, dass viele von Ihnen noch heute in Angst leben.
Wir zählen die Städte, weil die Liste der Namen zu lang ist. Aber wir dürfen nicht aufhören, die Namen zu sagen. Jeder Name, jeder Mensch, der ihn getragen hat, muss tief in unserem kollektiven Gedächtnis verankert werden. Jeder einzelne ein Mahnmal. Deshalb sagen wir ihre Namen. Immer und immer wieder:
Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov und Vili Viorel Păun.