Rede von June Tomiak zur Aktuellen Stunde „Lehren aus dem NSU: Rechte Gewalt und ihre Strukturen effektiv bekämpfen“
*** Es gilt das gesprochene Wort ***
Rede von June Tomiak zur Aktuellen Stunde „Lehren aus dem NSU: Rechte Gewalt und ihre Strukturen effektiv bekämpfen“ in der Plenarsitzung vom 26.03.2020
Sehr geehrter Herr Präsident,
meine Damen und Herren,
wir haben heute den 20. August 2020, vor genau sechs Monaten und einem Tag wurden bei einem rechtsextremen Anschlag in Hanau zehn Menschen getötet, viele weitere wurden verletzt.
Vor sechs Tagen brannte die Berliner Kneipe „Morgen wird besser“ in Lichtenberg, der jüdische Besitzer ist seit geraumer Zeit im Visier von Rechtsextremisten. Der rechtsextreme und antisemitische Anschlag in Halle, bei dem zwei Menschen getötet wurden, viele weitere dem Tod nur knapp entkommen sind, ist nicht mal ein Jahr her. Ebenfalls im letzten Jahr wurde der CDU-Politiker Walter Lübcke von bekannten Rechtsextremisten ermordet. Vor vier Jahren kam es in Berlin-Lichtenberg zu einem rassistischen Übergriff in einer Edeka-Filiale, an dessen Folgen das Opfer starb. In demselben Jahr ereignete sich der rechtsradikale Anschlag in einem Einkaufszentrum in München, bei dem neun Menschen getötet wurden.
All das sind die bekanntesten Fälle rechtsextremer Gewalt und Morde der vergangenen vier Jahre. Es sind nicht alle, denen wir gedenken müssen. Und, wir sprechen hier allein von den letzten vier Jahren.
Nach dem der NSU im Jahr 2011 enttarnt wurde, wurde bekannt, wie der Staat sehenden Auges rechtsextreme Mörder walten ließ. Von Staatsversagen war die Rede, von Unvorstellbarkeit, von Aufarbeitung, von Konsequenzen, von einem „nie wieder“.
Wir als Gesellschaft, unsere Behörden und auch wir als Politik tun uns immer noch und weiterhin schwer tatsächlich vollumfänglich anzuerkennen, wie tiefgreifend die Konsequenzen aus dem NSU hätten sein müssen. Stattdessen wiederholen wir bei jedem neuen Anschlag, bei jedem neuen Mord eine Inszenierung: Bestürzung, Trauer, Wut, Unvermögen.
Was die verschiedenen Taten eint ist, dass sie aus menschenverachtenden Motiven begangen werden. Ob Rassismus, Antisemitismus, Klassismus, Frauenverachtung oder Verschwörungsmythen der ausschlaggebende Punkt waren ist dabei fast nicht entscheidend. Denn diese Ideologien spielen zusammen, sie sind wie Bauklötze, die man beliebig ineinander stecken und stapeln kann. Und genau aus diesem Grund ist es so wichtig, die Problematik, die hinter jeder dieser Taten steckt, individuell zu analysieren und die Muster, die sich zeigen, auch als diese wahrzunehmen und anzuerkennen. Nur wenn wir das Problem und seine Vielschichtigkeit als solche anerkennen, werden wir etwas dagegen setzen können.
Es ist beschämend und inakzeptabel, dass wir bisher weder gesellschaftliche noch politische Mehrheiten in ausreichende Veränderungen übersetzen konnten. Eine umfassende Aufarbeitung der rechtsextremen Strukturen und historischen Kontinuitäten in Politik, Justiz und unseren Behörden hat nie stattgefunden. Doch diese Strukturen, diese Ideologien, wirken bis heute nach. Gesellschaftlich hat sich Deutschland darauf geeinigt, dass es sich nicht schickt, dies zu thematisieren. Obwohl es so bitter nötig ist.
Die Leidtragenden sind diejenigen, die auch in der gesellschaftlichen Debatte oft zum Hassobjekt werden. Die Ausländer, die verdammten Feministinnen, die Schwulen, die Armen, die Kranken und Abhängigen. Und auch wenn dieses „Wir“ gegen „Die“ immer wieder befeuert wird, aus der Mitte der Gesellschaft: Es ist ein Trugschluss. Gemeint sind wir alle. Jede*r von uns hier im Saal ist gemeint, der oder die sich gegen Menschenfeindlichkeit und Faschismus stellt. Der oder die für eine freie und offene Gesellschaft kämpft und nicht den Nazis nach dem Mund redet.
Grade das zeigt die Anschlagserie in Neukölln: Seit 2016 haben wir es mit einer Serie von Brandanschlägen, Übergriffen, Bedrohungen, Sachbeschädigungen und Diebstählen zu tun. Betroffen sind engagierte Bürger*innen, Bezirkspolitiker*innen, Gewerbetreibende. Ermittlungserfolge, die zu einer Verurteilung der Täter führen würden, gibt es bisher nicht. Doch was es gibt, sind Pannen. Ermittlungsfehler, Organisationschaos, Namensverwechslungen, Zuständigkeitsverwirrungen und letztlich viele Opfer, die sich allein gelassen fühlen und einen Bezirk, der geprägt ist, von einem stetigen Vertrauensverlust in unsere Behörden.
Und wie soll sich dieses Gefühl auch nicht einschleichen? Zuletzt wurde bekannt, dass eine Befangenheit ermittelnder Staatsanwälte im Raum steht. Dass die Hinweise dazu sowohl Polizei als auch Justiz bekannt waren, aber nicht gehandelt wurde. Ist es tatsächlich die fehlende Sensibilisierung, die Ignoranz gegenüber den Opfern und Betroffenen? Allein die Tatsache, dass eine Befangenheit im Raum steht, hat enorme Sprengkraft und dass jetzt quasi nebenbei herausgekommen ist, dass es sich hierbei um bekannte Vorgänge handelt. Es muss doch grade bei der Vorgeschichte dieser Serie klar sein, dass wir sicherstellen müssen, dass die zuständigen Stellen von Polizei und Justiz transparent gegenüber jedem Vorwurf erhaben sein müssen. Ich bin der Generalstaatsanwältin Margarete Koppers daher dankbar, dass sie genau dies erkannt und entsprechend konsequent gehandelt hat.
Doch auch die aktuellen neuen Erkenntnisse aus Neukölln sind nicht das einzige, dass uns umtreiben muss. Es gibt weiterhin den ungeklärten Mord an Burak Bektas, der 2012 getötet wurde, und dessen Mahnmal, das immer wieder geschändet wird. Der Mörder von Luke Holland, der 2015 getötet wurde, wurde verurteilt, doch selbst sein Zimmer mit Nazi-Devotunailien reichte nicht aus, um gegebenenfalls einen rechtsextremen Hintergrund feststellen zu können.
Wir haben ein Problem bei der Polizei, dem Verfassungsschutz und der Justiz. Und es lässt sich nicht mit Einzelfällen abtun. Wir haben ein Problem, wenn Opfer rassistischer Gewalt abgeschoben werden und ihnen ihre Rechte somit versagt werden. Wir haben auch ein Problem, wenn der Täter dazu noch Polizist ist.
Mit einem haben bürgerliche Kommentatoren Recht. Ja, diese Fälle sorgen dafür, dass das Vertrauen in unsere Sicherheitsbehörden verloren geht. Aber wie plump und stumpf muss man sein, um zu denken, dass die Diskreditierung von Berichterstattung und legitimer Kritik das verlorene Vertrauen zurück gewinnen würde.
Vertrauen muss man sich erarbeiten. Das müssen auch unsere Sicherheitsbehörden und auch alle Innenpolitiker dieses Landes verstehen. Wer Opfer wird, wer immer wieder sekundäre Viktimisierung erlebt, wer Gewalt durch Institutionen, die einen schützen sollen, erfährt, der wird sich nicht damit zufrieden geben können, wenn das Problem einfach für beendet erklärt wird. Wie auch?
Vielmehr müssen wir daran arbeiten, Vertrauen zu verdienen. Das geht nur mit brutaler Transparenz, Ehrlichkeit und aufrichtiger Bereitschaft, sich konstruktiv den eigenen Problemen zu stellen, um besser zu werden. Wir können hier so viel gewinnen, und doch entscheiden wir uns stets für den Weg des geringsten Widerstandes, auf Kosten derer, die wir am meisten schützen müssten.
Wir können und wir müssen hier besser werden. Das geht. Mit konkreten Maßnahmen.
Die aktuellen Fälle in Bezug auf die Staatsanwaltschaft müssen vollumfänglich aufgeklärt werden. Jeder noch so kleine Zweifel muss ausgeräumt werden, wir müssen uns sicher sein können, dass die Staatsanwaltschaft hier keine Fehler gemacht hat. Und wenn doch, dann braucht es harte Konsequenzen und ein Sicherstellen, dass so etwas zukünftig nicht mehr passiert.
Es braucht die weitere Aufarbeitung der bisher ungeklärten Fälle durch die BAO Fokus. Dass es weiterhin auch unaufgeklärte schwere Straftaten im Kontext von Neukölln gibt, ist nicht akzeptabel. Niemand kann vorgeben Ermittlungserfolge zu erzielen, aber wir können nicht zufrieden sein und werden nicht nachgeben bis die Täter gestellt und verurteilt sind.
Bezüge nach Hessen, wie zuletzt bekannt geworden ist, müssen vollumfänglich aufgeklärt werden. Hier muss es Ermittlungen auch über Ländergrenzen hinweg geben.
Wir freuen uns, dass unser Vorschlag für die Einsetzung von Sonderermittlern nun endlich umgesetzt wird. Wichtig ist jetzt, dass wir die Rahmenbedingungen für die Untersuchungen so gestalten, dass diese tatsächlich wirkmächtig sein können.
Wir brauchen auch eine schnellere und gründlichere Auswertung beschlagnahmter Datenträger. Falls hier mangelnde Ausstattung oder Expertise fehlt, müssen wir das wissen, um handeln zu können.
Alle Personen, die ins Visier rechtsextremer Täter kommen oder auf Feindeslisten geführt werden, müssen frühzeitig gewarnt und angemessen aufgeklärt werden.
Zusätzlich müssen wir auch strukturell besser werden. Dafür brauchen wir eine Parlamentarische Enquete-Kommission, die – unter Einbeziehung von Betroffenen-Verbänden – ausmachen kann, wo wir uns strukturell besser aufstellen müssen, wo Probleme liegen und Vorschläge erarbeiten, wie diese abgestellt werden können.
Unser Ziel muss es sein, das Vertrauen der Betroffenen wiederzuerlangen. Das wird harte Arbeit, insbesondere für die Institutionen, Behörden und auch Politiker*innen, die sich der Aufarbeitung bisher konsequent verweigert haben. Es wird nicht einfach und es wird nicht schnell gehen, doch dieser Weg ist der einzig richtige. Lassen Sie ihn uns zusammen gehen.