Veranstaltungsbericht: Humanitäre Hilfe für besonders schutzbedürftige Menschen
Der Genozid an den Jesid*innen im Irak hat die Menschen erschüttert, auch hier in Berlin. Aber auch heute noch leben tausende traumatisierter Opfer des IS-Terrors in Lagern vor Ort, vor allem Frauen mit Kindern. Klar ist: Von Berlin aus kann weder der Krieg beendet noch der IS besiegt werden. Aber wir können einigen von ihnen einen Neustart ermöglichen – mit einem eigenen Berliner Aufnahmeprogramm für besonders Schutzbedürftige. Wie das funktionieren kann, haben wir am 10. April diskutiert, mit dem UNHCR, Wadi e.V., den Brandenburger Grünen und vielen weiteren Expertinnen und Experten. Die Einladung von Silke Gebel, Bettina Jarasch und Susanna Kahlefeld stieß auf großes Interesse, dementsprechend angeregt wurde diskutiert.
Laut Rebecca Einhoff vom UNHCR ist eine Verstärkung des deutschen Engagements für besonders schutzbedürftige Menschen aus Kriegsgebieten dringend. Der UNHCR wünscht sich insbesondere eine Ausweitung der deutschen Resettlement-Aufnahmekapazität, vorzugsweise bundesweit koordiniert. Jesid*innen im Nordirak gehören zu den besonders schutzbedürftigen, von sexualisierter Gewalt betroffenen Opfern. Sie gelten allerdings nicht als Flüchtlinge, sondern als Binnenvertriebene, und fallen deshalb nicht unter die UNHCR-Kriterien für Resettlement. Aktuell berät der UNHCR den Bund, Schleswig-Holstein, Brandenburg und Berlin zu Programmen, die es erlauben, mittels Schutzkontingenten humanitäre Verantwortung zu übernehmen.
Arvid Vormann von WADI e.V., einem Verband für Krisenhilfe und solidarische Entwicklungszusammenarbeit, betont, dass die betroffenen Menschen aus dem Nordirak extrem schwerwiegend und komplex traumatisiert sind. Entscheidend für sie sei vor allem ein sensibles und sicheres Umfeld. Viele der vom IS entführten Frauen haben mittlerweile Kinder von ihren Vergewaltigern bekommen, die von der Community nicht akzeptiert werden. Diese Frauen seien zu der Entscheidung gezwungen, sich entweder von ihren Kindern zu trennen oder von ihren Familien loszusagen. Für sie kann die Aufnahme in Berlin ein selbstbestimmtes Leben mit ihren Kindern ermöglichen. – Aber auch vor Ort brauche es Schutzhäuser und Unterstützung für die Frauen. Er begrüßte daher, dass Baden-Württemberg und Brandenburg begleitend zu Aufnahmeprogrammen die Arbeit von Hilfsorganisationen im Nord-Irak finanzieren.
Das Land Brandenburg ist auf Initiative der Grünen-Fraktion schon den Schritt gegangen, ein Aufnahmeprogramm für jesidische Frauen zu initiieren. Zudem hat das Brandenburger Parlament mittlerweile beschlossen, auf Bundesebene auf eine wirksamere Strafverfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit an Jesidinnen und Jesiden und anderen betroffenen Minderheiten hinzuwirken. Zur Finanzierung der Projekte wurden im Nachtragshaushalt mittlerweile 2 Millionen Euro bereit gestellt, wie die grüne Fraktionsvorsitzende Ursula Nonnenmacher berichtete. Allerdings suche Brandenburg dringend nach Kooperationspartnern unter den anderen Bundesländern. Sie begrüßte daher ausdrücklich, dass das geplante Berliner Aufnahmeprogramm auf Kooperation mit Brandenburg angelegt sein solle.
In der Diskussion wurde immer wieder das kanadische Aufnahmeprogramm als positives Beispiel genannt. Dort wurden sowohl Binnenvertriebene als auch Geflüchtete aufgenommen. Es wurden Kinder, Mädchen, alleinerziehende Eltern und Opfer mit familiären Verbindungen in Kanada aufgenommen, außerdem Menschen, die als LSBTIQ oder Flüchtlinge mit Behinderungen oder spezifischen medizinischen Bedürfnissen als besonders schutzbedürftig gelten. Zudem wurde darauf geachtet, dass Menschen durch die Aufnahme nicht von ihren Familien getrennt wurden, sondern ihre Familie mitnehmen durften.
Die Erfahrungen mit Aufnahmeprogrammen für jesidische Frauen und Mädchen zeigen, dass vielen der Betroffenen vor allem die Stabilisierung der Lebensverhältnisse hilft: die Möglichkeit, für sich selbst zu sorgen, die Familie nachzuholen und der Zugang zu Bildung. Die Unterbringung in Heimen ist ungeeignet, gute Erfahrungen gibt es mit der Unterbringung jeweils kleiner Gruppen von Frauen und ihren Kindern in einem Wohnhaus bzw. einer Wohngemeinschaft. Weitere Voraussetzung ist ein unbefristeter Aufenthalt.
Zugleich braucht es für die Therapie von schwerwiegenden Traumatisierungen ein ausreichendes Angebot an psychosozialer Versorgung. Obwohl Berlin im Vergleich zu anderen Bundesländern vergleichsweise gut aufgestellt ist, kann der Bedarf auch hier nur teilweise gedeckt werden. Im Zentrum Überleben gibt es beispielsweise pro Woche ca. 20 Anfragen, davon können ca. 4 in Vorgesprächen beurteilt werden und nur 2 Personen bekommen die Möglichkeit einer psychotherapeutischen Behandlung. Nach wie vor schwierig gestaltet sich die Begleitung dieser Gespräche mit qualifizierten Dolmetschern.
Bettina Jarasch sagte abschließend zu, dass die Erkenntnisse aus diesem Gespräch in den geplanten Antrag für ein Landes-Aufnahmeprogramm einfließen und in der weiteren Arbeit berücksichtigt werden. Ein vertiefendes Fachgespräch zur psychosozialen Versorgung von Geflüchteten sei bereits terminiert.