Rede von Bettina Jarasch zur Aufnahme von Ortskräften in Berlin in der Aktuellen Stunde am 2. September 2021
*** Es gilt das gesprochene Wort ***
Rede von Bettina Jarasch zur Aktuellen Stunde am 2. September 2021.pdfSehr geehrter Herr Präsident,
meine Damen und Herren,
nach 20 Jahren hat die Nato den Afghanistaneinsatz abrupt beendet. Überstürzt haben internationale Truppen das Land verlassen, auch die Bundeswehr. Afghanische Ortskräfte haben über zwei Jahrzehnte an der Seite von deutschen Soldatinnen und Soldaten gearbeitet. Sie haben unsere Polizeikräfte in Afghanistan unterstützt, unseren diplomatischen Dienst und die Entwicklungszusammenarbeit. Sie waren als Übersetzer, Fahrer, Koch für die Bundeswehr tätig. Manche als geheime Ermittlerinnen und Ermittler.
Die afghanischen Ortskräfte hatten Hoffnungen. Sie wollten, dass ihr Land stabiler wird, freier – ein Land, das ihren Kindern Chancen bietet. Und die ganze Zeit über haben sie sich auf eines verlassen: Dass sie und ihre Familien mit unserer Truppe herausgeholt werden, sollte es eines Tages eng werden. Denn für die Taliban sind sie Verräter. Ihr Vertrauen wurde enttäuscht.
Nur rund 600 Ortskräfte und Familienangehörige waren unter den Menschen, die die Bundeswehr mit den Evakuierungsflügen außer Landes gebracht hat. Auf den Listen von Hilfesuchenden stehen mehrere zehntausend Menschen. Ich habe immer noch das Bild aus dem Laderaum des ersten deutschen Evakuierungsflugs vor Augen. In ihm saß eine Handvoll Menschen. Es ist ein Sinnbild für das Versagen der Bundesregierung.
Vor zwei Wochen habe ich Bundeswehrhauptmann Marcus Grotian getroffen. Er war lange in Afghanistan stationiert und hat schon vor sechs Jahren ein Patenschaftsnetzwerk für Afghanische Ortskräfte gegründet. Das Gespräch hat mich tief bewegt. Grotian wirkte, als hätte er seit Tagen nicht geschlafen. Ständig liefen über sein Handy Hilferufe von Ortskräften ein. Aus Kandahar, aus Masar-I-Sharif, aus Kabul. Mit Hilfe seiner Kontakte versuchte er, wenigstens noch einige von ihnen an den Taliban vorbeizuschmuggeln und außer Landes zu schaffen.
Und seine Analyse ist bitter: Die Bundesregierung habe Hinweise des eigenen diplomatischen Dienstes ignoriert. Statt rechtzeitig die Evakuierung der Ortskräfte zu planen, habe sie gezielt bürokratische Hürden aufgebaut, Visaverfahren verschleppt oder erst gar nicht eingeleitet. Sie habe Ortskräfte mit teils absurden Begründungen aus dem Kreis der Hilfeberechtigten ausgeschlossen: Die Taliban interessiert es nicht, ob jemand direkt bei der Bundeswehr oder bei einem Subunternehmen beschäftigt war. Oder ob er vor der Machtübernahme der Taliban bereits eine Gefährdungsanzeige gestellt hätte.
Grotian trägt schwer an der Last einer Verantwortung, die gar nicht seine ist. Sein Vertrauen in die Politik ist zutiefst erschüttert. Und er kann es nicht fassen, dass hierzulande manche noch Abschiebungen nach Afghanistan gefordert haben – als die Taliban längst Region um Region zurückerobert haben. Und dass es die erste Sorge von Kanzlerkandidat Armin Laschet ist, dass zu viele Menschen aus Afghanistan den Weg nach Deutschland finden. Anstatt sich Sorgen über all die zu machen, die nicht mehr herauskommen werden, weil die Taliban die Grenzen längst dichtgemacht haben.
Viele Fragen stellen sich. Und wir werden Antworten auf diese Fragen einfordern. Jetzt aber geht es zuerst um die Menschen – und wie wir helfen können. Wir denken an die Ortskräfte – und diejenigen, die sich für Menschenrechte und die Selbstbestimmung der Frau einsetzen. An Frauen, die ihren Beruf nicht mehr ausüben können. Wir denken an die Wissenschaft – viele Menschen an Universitäten und Forschungseinrichtungen sind nicht mehr sicher. Als Landesregierung haben wir dafür gesorgt, dass Berlin bedrohten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern hilft. Mit der Einstein Stiftung haben wir ein Programm aufgelegt, das ihnen Schutz bietet. Mit unserem Entschließungsantrag sorgen wir heute dafür, dass es aufgestockt wird.
Mich bewegt in den vergangenen Tagen aber auch eines: die große Hilfsbereitschaft der Berlinerinnen und Berliner. Die überwiegende Mehrheit ist dafür, dass wir afghanische Ortskräfte und ihre Familien aufnehmen. Das zeigt: Die Berlinerinnen und Berliner sind sich der Verantwortung bewusst. Berlin duckt sich nicht weg – Berlin macht den Rücken gerade.
Die Haltung der Berlinerinnen und Berliner – ihre Hilfsbereitschaft für die afghanischen Ortskräfte – das überrascht mich nicht. Erst vor wenigen Tagen haben wir den 60. Jahrestag des Mauerbaus begangen. Hier in Berlin wissen wir, was es heißt, wenn Menschen ihr Leben auf der Flucht riskieren. Die Erinnerung an die Zeit der Teilung weist uns in Situationen wie dieser den Weg – zu Hilfe und Menschlichkeit.
Berlin hat viele evakuierte Ortskräfte und ihre Familien aufgenommen – über das für Berlin vorgesehene Kontingent hinaus. Ich danke dem Regierenden Bürgermeister Michael Müller und Innensenator Andreas Geisel, die sich rasch und klar positioniert haben. Wir haben allerdings auch eine ureigene Verantwortung in Berlin: für diejenigen Afghaninnen und Afghanen, die schon hier leben.
In Berlin leben afghanische Familien, deren Angehörige in Nachbarländer geflüchtet sind. Mich hat ein Hilferuf von Xenion erreicht: Die Berliner Beratungsstelle kann den verzweifelten Anfragen kaum nachkommen. Familienzusammenführung für diese Familien muss – angesichts der außergewöhnlichen Härte – möglich gemacht werden. Einen Teil der eigenen Familie zurücklassen zu müssen – das Wissen, dass Angehörige in der alten Heimat in Lebensgefahr sind – das ist unerträglich. Das wissen die Menschen gerade hier, in einer Stadt, in der vor genau 60 Jahren eine Mauer Familien, Paare und Freunde von einem Tag auf den anderen trennte.
Andere sind gelähmt vor Angst, weil sie um ihr eigenes Leben fürchten. Sie fürchten in ein Land abgeschoben zu werden, das von den Taliban beherrscht wird. Es ist Zeit, ihnen eine langfristige Perspektive zu geben. Sie müssen die Chance bekommen, für sich und ihre Kinder ein Leben aufzubauen – als Berlinerinnen und Berliner. Als Berliner wird man geboren – oder man wird es. Unsere Stadt ist ein Zuhause für so viele. Das macht uns aus.
Ich danke Ihnen.