Integration als Chance für Innovation nutzen
Berlin ist wie kaum eine andere Stadt in Deutschland von Zuwanderung geprägt und hat schon immer von neuen Ideen und neuen Einwohner*innen profitiert. Viele Geflüchtete hängen jedoch im Limbo zwischen Beschäftigungsverbot in Deutschland und keiner Rückkehrmöglichkeit in die verlorene Heimat fest. Wir wollen damit Schluss machen und fordern den Berliner Spurwechsel: Weg mit Beschäftigungsverboten, die Integration blockieren und den Fachkräftemangel in Berlin verschärfen. Wir fordern außerdem Bleiberechte für alle, die seit Jahren trotz prekärem Aufenthalt gut integriert leben.
Für die Forderung, dass Menschen in Ausbildung und Arbeit nicht abgeschoben werden dürfen, kämpfen wir nicht alleine. Viele Berliner Unternehmerinnen und Unternehmer, von Klein- bis Großbetrieben stehen hier an unserer Seite. Gemeinsam mit der Berliner IHK haben wir auf unserer Frühjahrsklausur 2019 den Business Immigration Service besucht, nach dessen Vorbild die Ausländerbehörde zur Einwanderungsbehörde umgebaut werden soll und haben mit Migrant*innen geredet, die von ihren Erfahrungen auf dem Berliner Arbeitsmarkt berichtet haben.
Der Brexit wird eine Herausforderung für die Berliner Verwaltung: Die 18.000 Britinnen und Briten, die zur Zeit in Berlin leben, müssen nach dem Austritt des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union einen Aufenthaltstitel beantragen, um auch weiterhin in Berlin leben und arbeiten zu können. Um den zu erwartenden großen Andrang bei der zuständigen Ausländerbehörde zu bewältigen, setzen wir uns für eine kurzfristige Aufstockung der Personalkapazitäten der Berliner Ausländerbehörde ein. Wir wollen, dass Berlin auch weiterhin Lebensmittelpunkt für die in dieser Stadt lebenden Britinnen und Briten bleibt.
Wir Grünen wollen die Integration der Geflüchteten als Chance für weitere Innovationen nutzen, die Berlin dringend braucht. Darum haben wir einen Sieben-Punkte-Plan zu Integration auf unserer Frühjahrsklausur 2019 beschlossen.
Hier geht es zum Beschlusspapier:
Inhalt:
Beschlusspapier der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus, 15.03.2019
INTEGRATION ALS CHANCE FÜR INNOVATION NUTZEN
Die drei Jahre seit der Ankunft der vielen Geflüchteten im Sommer 2015 haben uns allen viel Veränderung
abverlangt. Sie haben zugleich vieles in Bewegung gebracht und uns einen enormen Innovationsschub
beschert. Bündnis 90/Die Grünen wollen die Integration der Geflüchteten als Chance für weitere Innovationen
nutzen, die Berlin dringend braucht. Denn Berlin ist eine internationale Metropole, in der Zuwanderung
der Normalfall ist und bleiben wird.
Wir mussten 2015 nicht bei Null anfangen. In Berlin gab es auch vorher schon engagierte Beratungsstellen,
Migrantenorganisationen, Initiativen und Projekte. Aber niemals vorher haben so viele Berliner*innen mit
ihnen zusammen gearbeitet, Expertise erworben und sich untereinander organisiert. Auch das Land Berlin
ist neue Wege gegangen. Die Verwaltung hat nicht nur mehr zivilgesellschaftliche Projekte als je zuvor
finanziert, sondern auch begonnen, verbindlich mit ehrenamtlich Engagierten zusammen zu arbeiten und
eigene Landesprogramme aufgelegt. So gibt es in Berlin Sprachkurse für alle – auch für die, denen der Zugang
zu BAMF-Kursen versperrt ist.
Dennoch gibt es unnötige rechtliche und bürokratische Hürden und Integrationshindernisse, die ein Ankommen
erschweren, und nicht alles läuft so, wie es sollte. Deshalb ist es Zeit für einen Praxis-Check. Unser
Ziel ist, dass die Menschen, die neu ankommen, möglichst rasch dazu gehören. Egal ob sie hierher geflohen
sind, auf der Suche nach Arbeit hierhergekommen, zu ihrer Familie gezogen sind oder ob sie aus Großbritannien
stammen und wegen des Brexits jetzt einen Aufenthaltstitel beantragen müssen.
Ende 1992 lebten 386.000 Ausländer*innen in Berlin, das waren knapp zehn Prozent der Stadtbevölkerung.
Im Juni 2018 waren es 726.000. Jeder fünfte Berliner hat demnach keinen deutschen Pass. 105.000 dieser
Neu-Berliner*innen sind in den letzten Jahren als Geflüchtete gekommen, die allermeisten haben einen
Aufenthaltsstatus, sind noch im Asylverfahren oder sind wegen objektiver Ausreisehindernisse noch hier,
sprich: die allermeisten werden bleiben.
Das macht die Integration der Geflüchteten zur Bewährungsprobe für Berlin: Was hat sich in dieser neuen
Situation bewährt, was funktioniert, was funktioniert so nicht mehr? Und vor allem mit Blick auf die Zukunft:
Welche Strukturen muss der Staat dauerhaft gewährleisten in einer internationalen Metropole, in der
Einwanderung der Normalfall ist?
Der LAGeSo-Skandal hat deutlich gemacht: Nicht alle Behörden haben diese Bewährungsprobe bestanden.
Unter Druck war das LAGeSo, damals zuständig für die Registrierung und Erstaufnahme der Geflüchteten,
nicht mehr funktionsfähig. Zugleich hat die Integration einen wahren Innovationsschub in der Verwaltung
ausgelöst. Endlich gibt es mehr verbindliche Formen der Kooperation mit Ehrenamtlichen. Integrationslots*
innen im Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF), Auszubildende und Mitarbeiter*innen mit
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Fluchterfahrung in den Jobcentern und der Ausländerbehörde treiben die interkulturelle Öffnung von Verwaltung
voran. Informationsmaterial gibt es häufiger mehrsprachig und Social Media werden als niederschwellige
Kommunikationsmöglichkeit auch für Behörden entdeckt. Mit einer klugen, flexiblen Personalpolitik
und einem innovativen Nachqualifizierungskonzept kann das LAF als jüngste Berliner Behörde mit
seinen zahlreichen Quereinsteiger*innen zur Modellbehörde werden. Dafür brauchen die Mitarbeiter*innen
allerdings die Sicherheit, dass sie nicht mehr wegen Entscheidungen aus den Jahren 2015 und 2016
disziplinarrechtlich belangt werden. Auch der Rechnungshof erkennt an, dass Entscheidungen damals in einer
Ausnahmesituation getroffen werden mussten, und untersucht nur noch Fälle, in denen es um offensichtliches
Führungsversagen ging.
Ein solcher Aufbruch im LAF ist nur der Anfang. Wir wollen mehr als das, wir wollen eine Verwaltungsmodernisierung
für die Einwanderungsstadt: Integrationslots*innen können als interkulturelle, mehrsprachige
Fachberater*innen in Jobcentern oder Bürgerämtern für besseren Service sorgen. Und zwar nicht als
arbeitsmarktpolitische Maßnahme, sondern als festangestellte Mitarbeiter*innen. Die Ausländerbehörde
soll zur Einwanderungsbehörde umgebaut werden. Dafür genügt es allerdings nicht, sie zur eigenständigen
Behörde zu machen. Dafür braucht es vielmehr einen echten Kulturwandel.
Zum Jahreswechsel hat die Bundesregierung ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz vorgelegt, flankiert mit
einem Gesetz über Duldung für Ausbildung oder Beschäftigung. Wir Grünen fordern seit vielen Jahren ein
Einwanderungsgesetz. Nun hat sich angesichts des immer dramatischeren Fachkräftemangels und des
demographischen Wandels endlich die Erkenntnis durchgesetzt, dass wir eine geregelte Einwanderung
brauchen. Darauf warten gerade auch viele Berliner Betriebe und Unternehmen.
Die beiden Gesetzentwürfe der Bundesregierung sind allerdings enttäuschend: Das Ziel, Arbeitsmigration
und Arbeitsmarktintegration zu verbessern, wird an vielen Stellen sogar ins Gegenteil verkehrt. Insbesondere
die Chance, die Potentiale der geflüchteten Menschen besser zu nutzen, wird im Beschäftigungsduldungsgesetz
krachend verfehlt.
Die neu geschaffene Einwanderungsmöglichkeit zur Berufsausbildung wird mit so hohen Voraussetzungen
überfrachtet, dass sie in der Praxis zur Einzelfallregelung verkommen wird. Die Ausbildungs- und Beschäftigungsduldung
ist nicht nur unzureichend, sondern bedeutet für viele geduldete Menschen, dass trotz Integration
durch Arbeit die Abschiebung bevorstehen kann. Dies ist ein fatales Signal sowohl für die Menschen
in Ausbildung und Arbeit, als auch für die vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen, die auf sie
als Arbeitskräfte angewiesen sind.
Unsere Linie ist klar: Arbeit und Bildungserfolge müssen Aufenthalt sichern! Wir wollen die Hürden senken
und Ausbildungs- und Beschäftigungsduldung in Aufenthaltstitel für Ausbildung und Beschäftigung umwandeln.
Dann hätten auch alle Auszubildenden endlich Zugang zu Ausbildungsförderung. Wir wollen
unsere humanitären Standards nicht absenken im Zuge der neuen Gesetze. Stattdessen braucht es Mindeststandards,
die Raum für eine liberalere Auslegung lassen. Den beiden Gesetzen können wir im Bundesrat
nur mit deutlichen Verbesserungen zustimmen. Dazu gehört eine Bleiberechtsregelung für Langzeitgeduldete,
die Arbeit oder berufliche Qualifikationen haben.
Aber wir setzen nicht nur auf Nachverhandlungen auf Bundesebene: Wir wollen mit unseren Mitteln auf
Landesebene ermöglichen, was der Bund schuldig geblieben ist: Möglichkeiten für einen Berliner Spurwechsel.
Weg mit Beschäftigungsverboten! Bleiberechte für die, die seit Jahren trotz prekärem Aufenthalt
gut integriert hier leben.
Wir wollen die Integration der Geflüchteten für Innovationen nutzen, die Berlin insgesamt voranbringen
und allen Menschen dienen, die hier leben. Viele der nächsten Schritte sind im Gesamtkonzept Integration
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und Partizipation beschrieben, das der Senat zum Jahresende beschlossen hat. Wir erwarten jetzt die konkrete
finanzielle Untersetzung dieser Leitlinien im Doppelhaushalt 20/21. Zugleich sehen wir in einigen
zentralen Feldern weiteren Handlungsbedarf.
Integration als Innovation: Unser Sieben-Punkte-Plan
1) Für einen Berliner Spurwechsel
Arbeit ist zentral, um in einer Gesellschaft anzukommen. Ende 2018 waren 11.000 Geflüchtete sozialversicherungspflichtig
beschäftigt. Zugleich macht sich der Fachkräftemangel in Berlin mittlerweile in nahezu
allen Branchen bemerkbar. Für uns gilt: Wer lernen und arbeiten will, soll bleiben können. Das Beschäftigungsduldungsgesetz
des Bundes hat viel zu viele Hürden eingebaut, es wird nur wenigen ehemaligen
Asylbewerber*innen ermöglichen, als Arbeitskräfte zu bleiben. Deshalb wollen wir alle landesrechtlichen
Möglichkeiten für einen Berliner Spurwechsel nutzen. Denn wir wollen auch das inländische Fachkräftepotential
ausschöpfen.
Dazu muss Schluss sein mit Ausbildungs- und Beschäftigungsverboten. Ende 2018 lebten 10.906 Menschen
mit Duldung in Berlin, viele davon schon seit Jahren, die Hälfte von ihnen mit Beschäftigungsverboten.
Diese Beschäftigungsverbote haben sich in Zeiten des Fachkräftemangels genauso überlebt wie das Einverständnis
der Bundesagentur für Arbeit als Voraussetzung für eine Beschäftigungserlaubnis. Wessen Identität
geklärt ist, soll eine Ausbildung oder ein Beschäftigungsverhältnis aufnehmen dürfen.
Für Menschen, die absehbar hier bleiben werden und gut integriert sind, obwohl sie schon lange mit prekärem
Status in Berlin leben, braucht es dringend eine Altfallregelung Aufenthaltsrechte. Das sind insbesondere
Menschen aus Afghanistan und dem Irak. Das Land soll dafür prüfen, ob solche gruppenbezogenen
Legalisierungslösungen nach §25.5 Aufenthaltsgesetz möglich sind, wie es sie in Berlin bereits für Geflüchtete
aus dem Libanon und aus Bosnien gab. Denkbar sind auch Aufenthaltstitel als ein Vorgriff auf Aufenthaltsverfestigung
für alle Geduldeten, deren Identität geklärt ist und die einen Arbeitsplatz in Aussicht haben.
Ausbildungsduldungen muss es in Berlin verlässlich für die gesamte Zeit einer dualen und auch einer schulischen
Berufsausbildung geben, ebenso wie bereits für ausbildungsvorbereitende Maßnahmen (wie BQL,
IBA), die zum Erwerb eines Schulabschlusses führen. Eine entsprechende Regelung besteht bereits an allgemeinbildenden
Schulen im letzten Schuljahr vor Erwerb von BBR/MSA. Auch für Verfahren zur Anerkennung
von Berufsabschlüssen bzw. entsprechende Nachqualifizierungen braucht es eine aufenthaltsrechtliche
Sicherheit. Der erfolgreiche Abschluss einer Ausbildung muss aufenthaltsrechtliche Sicherheit auch bei
einem Wechsel des Arbeitgebers bringen.
Die Stadt Hamburg wirbt offensiv darum, dass junge Geflüchtete sich um eine Ausbildungsduldung bemühen:
„Eine Berufsausbildung in Deutschland ist Ihre Chance auf einen sicheren Aufenthaltsstatus – und auf
einen gut bezahlten Job“, heißt es in einer Broschüre mit dem Titel „Ausbildung: Deine Wahl! Deine Chance!“
Den potentiellen Arbeitgeber*innen verspricht die Stadt: „Für Sie als Arbeitgeber bedeutet die Neuregelung,
dass Sie fast jeder Ausländerin oder jedem Ausländer einen Ausbildungsplatz anbieten können – unabhängig
davon, wie alt diese Person ist oder über welchen Aufenthaltsstatus sie gerade verfügt.“ Eine solche
klare Haltung und Kommunikation wollen wir auch in der Bundeshauptstadt etablieren.
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2) Verwaltungsmodernisierung
Die Ausländerbehörde ist für viele, die neu nach Berlin kommen, der Anfang und das Ende von allem. Für
Fachkräfte und Gründer*innen bietet Berlin mit dem Business Immigration Service BIS von Ausländerbehörde
und IHK einen One Stop Shop, der bundesweit einmalig ist: mit mehrsprachigem Service, Online-Informationen,
rascher Terminvergabe, Klärung aller relevanten Fragen vom Visum bis zur Anerkennung von Abschlüssen.
Wir sehen alle Menschen, die zuwandern, als Ressource für die Stadt, egal ob geflohen, für Ausbildung,
Studium oder zu ihrer Familie nach Berlin gekommen. Deshalb wollen wir die ganze Ausländerbehörde
nach dem Vorbild des BIS zur Einwanderungsbehörde machen. Zentral dafür ist die Etablierung einer
neuen Behördenkultur. Mitarbeiter*innen müssen geschult werden, rechtliche Spielräume im Sinne der Eingewanderten
zu nutzen. Außerdem braucht es eine Service-Offensive für Dolmetscher*innen vor Ort, einen
mehrsprachigen Infodesk, eine Beschwerdestelle, eine zentrale Anlaufstelle für Betriebe und genug Personal,
um alle Fälle integrationsfreundlich zu bearbeiten und mit Beratungsstellen wie dem IQ-Netzwerk zu
kooperieren.
Integrationslots*innen leisten bei vielen Trägern und mittlerweile auch im Landesamt für Flüchtlinge LAF
wertvolle Arbeit als Kulturmittler*innen. Viele von ihnen haben akademische Abschlüsse. Sie dürfen nicht in
schlecht bezahlten Jobs ohne Perspektive im Rahmen des Solidarischen Grundeinkommens landen. Wir sehen
ihre Arbeit als eine staatliche Pflichtaufgabe: Sie sind Fachberater*innen für Migration, und sollen mit
einem eigenen Berufsbild und tariflicher Vergütung mindestens auf dem Niveau TV-L 9 in Behörden, Jobcentern
und Bürgerämtern angestellt werden können.
Gleichberechtigte Teilhabe sowie das Fitmachen der Verwaltung für eine diverse Gesellschaft sind Querschnittsaufgaben.
Um sie in allen Senatsressorts und Bezirken vorantreiben zu können, muss der Beauftragte
des Senats für Integration und Migration eigenständig und ressortübergreifend agieren können. Wir wollen
daher mit der Novellierung des Gesetzes für Integration und Partizipation die Stelle des oder der
Integrationsbeauftragten wieder unabhängig machen, vergleichbar zur Datenschutzbeauftragten.
3) Mehr Sprache und Mehrsprachigkeit
Zum Schuljahresbeginn besuchten 6148 Schüler*innen Willkommensklassen an den verschiedenen Schularten.
Erklärtes bildungspolitisches Ziel ist es, dass sie so rasch wie möglich an Regelklassen wechseln –
Dafür braucht es endlich mehr Unterstützung für die Lehrkräfte dort. Anders als in den Oberstufenzentren
gibt es für die Willkommensklassen an allgemeinbildenden Schulen immer noch kein gemeinsames Curriculum
und kein adäquates Unterrichtsmaterial, viele Willkommenslehrkräfte werden nicht als Teil des Kollegiums
wahrgenommen und bleiben deshalb bei vielen Planungen außen vor. Das individuelle Recht auf
die bestmögliche Bildung gilt auch für Geflüchtete und unabhängig vom Aufenthaltsstatus: Deshalb wollen
wir die Verfahren in der Clearingstelle und den bezirklichen Koordinationsstellen weiterentwickeln. Es
braucht einen wirklich individuellen Blick auf die Fähigkeiten und auch Wünsche der Kinder und Jugendlichen.
Die Willkommensklassen wollen wir dauerhaft beibehalten – als flexible Sprachlerngruppen für Schüler*innen,
die dem Regelunterricht noch nicht ausreichend folgen können. Sie sind eine Ergänzung des Regelangebots,
kein Parallelprogramm. Bei der Deutschförderung wollen wir systematisch weitergehen: Vom Deutschlernen
in Willkommensklassen für Geflüchtete zur Deutschförderung im Regelunterricht für alle. Das bedeutet
konkret: Sprachförderstunden soll es nicht nur in Schulen mit mehr als 40 % Schüler*innen nichtdeutscher
Herkunft geben; es braucht Angebote nach tatsächlichem Bedarf. Bei der Umsetzung ihrer
Sprachförderkonzepte sollen Schulen stärker als bisher durch das Sprachenzentrum und die Schulaufsicht
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unterstützt werden. Deutsch als Zweitsprache muss in der Ausbildung und im Rahmenlehrplan stärker verankert
werden, damit DaZ-Lehrkräfte die Deutschförderung übernehmen können, und zwar als regulär angestellte
Lehrkräfte.
Mehrsprachigkeit ist ein Gewinn für eine internationale Metropole. Deshalb wollen wir auch hier vorankommen.
An den Berliner Hochschulen muss es Angebote zur Lehramtsausbildung für Arabisch, Kurdisch und
weitere Sprachen geben. Damit mehr Schulen als bisher auch andere als die EU-Amtssprachen als zweite
Fremdsprache anbieten können. Außerdem wollen wir einen neuen Anlauf nehmen für eine deutsch-arabische
Europaschule.
4) Eltern stärken und keinen Jugendlichen verloren geben
Kinder brauchen Eltern, die ihre Rechte kennen und ihre Kinder auf ihrem Bildungsweg aktiv begleiten
können. Das gilt nicht nur, aber gerade für Familien, die hierher geflohen oder neu zugewandert sind.
Deshalb wollen wir Eltern stärken: Es braucht mehr Elternbegleiter*innen, die möglichst mehrsprachig sind
und auch interkulturelle Vermittlungsarbeit an Schulen leisten können. Sie sollen sowohl mit Familienzentren
und anderen sozialräumlichen Angeboten zusammenarbeiten als auch mit Kitas und Schulen. Die
Arbeit der Stadtteilmütter hat sich bewährt. Unabhängig davon wollen wir die Angebote für Eltern ausbauen
und ein Landesprogramm Elternbegleiter*innen etablieren, das für alle Eltern offen ist, die Bedarf haben.
Die Elternkurse an den Volkshochschulen wollen wir ausbauen und besser in die Schulen integrieren. Denn
sie kombinieren Spracherwerb mit Orientierungswissen zum Bildungssystem und stärken dadurch Eltern.
Damit sie besser als bisher Brücke zwischen Eltern und Schule sein können, soll der Unterricht in den
Schulen stattfinden. Und die VHS-Dozent*innen sollen Fächer im Lehrerzimmer bekommen.
Manche der geflüchteten Jugendlichen sind mit zu wenig Schulvorerfahrung nach Deutschland gekommen,
um im regulären Schulbetrieb einen Abschluss zu schaffen. Für sie hat die Koalition bereits Modelle der
Praxiserprobung etabliert. Dabei geht es vor allem darum, dass die Jugendlichen hier im Leben ankommen.
Diese Jugendlichen müssen wir besonders im Blick haben, damit sie uns nicht verloren gehen. Dasselbe gilt
für die Schulabbrecher*innen: Es kann nicht sein, dass sieben Prozent der Schüler*innen die Schule ohne
Abschluss verlassen.
Für sie alle braucht es ein neues Angebot, das ihre Kompetenzen in den Blick nimmt und Experimente zulässt,
unabhängig von der Altersgrenze: die Jugendlichen sollen sich in realen beruflichen Lernaufgaben
ausprobieren können. Wechsel müssen erlaubt und der Übergang in die duale Ausbildung sowie das Nachholen
von Schulabschlüssen jederzeit möglich sein. Dabei sollen ihnen Bildungsbegleiter*innen zur Seite
stehen, wie sie sich in den IBA-Lehrgängen an den OSZ bewährt haben. Ein solches Angebot wollen wir zusammen
mit den OSZ entwickeln. Denn wir geben keinen Jugendlichen verloren!
5) Begleitet im Beruf
Jenseits der aufenthaltsrechtlichen Fragen haben geflüchtete und zugewanderte Auszubildende und
Beschäftigte dieselben Bedürfnisse. Sie brauchen vor allem eine berufsbegleitende Sprachförderung und
kultursensible Begleitung beim Übergang in Ausbildung oder Beruf. Aus Sicht der Betriebe und Unternehmen
braucht es zudem Berufseinstiegsförderung, die zugewanderten Beschäftigten branchenspezifisch
rechtliches und praktisches Wissen vermittelt, das für eine Berufstätigkeit in einem hoch formalisierten
Land wie Deutschland nötig ist.
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Deshalb wollen wir das Landesprogramm für Sprachkurse ausweiten und öffnen. Es fehlen Angebote für B2
und C1, aber auch Alphabetisierungskurse. Diese Kurse sollen allen offenstehen, unabhängig vom Aufenthaltsstatus
oder der Bleibeperspektive. BAMF-Sprachkurse sollen an den OSZ angeboten werden, damit die
Jugendlichen in dualen Ausbildungen neben Schule und Betrieb nicht noch einen dritten Lernort haben.
Wenn das nicht gelingt, soll das Land an OSZ in eigener Regie Sprachkurse anbieten. Berufsbegleitende
Sprachkurse gehören an den Ausbildungsort oder in die Betriebe. Dafür soll das Land auch mit der Regionaldirektion
der Bundesagentur für Arbeit in Verhandlungen treten.
Es gibt zahlreiche Programme zur Berufseinstiegsförderung. Geflüchtete mit schlechter Bleibeperspektive
sind aber von ihnen ausgeschlossen. Unser Ziel ist, dass auch Geflüchteten sämtliche Förderinstrumente
aus SGB II und III zur Verfügung stehen. Wer einen Ausbildungsvertrag hat, sollte auch von assistierter Ausbildung
und Ausbildungsbeihilfen profitieren können. Zugleich braucht es branchenspezifische Einstiegsförderung
sogar für diejenigen mit anerkannten Abschlüssen. Wir wollen Maßnahmen wie Eingliederungszuschüsse
und Entgeltzuschüsse für berufsbegleitende Qualifizierung stärker nutzen und wo nötig Lücken
durch ein Landesprogramm schließen. Insbesondere für Frauen fehlen Angebote mit Kinderbetreuung. Hier
wollen wir mit den öffentlichen Unternehmen des Landes vorangehen.
Entscheidend ist, dass Menschen begleitet werden beim Übergang in Ausbildung und Beruf und oft auch
darüber hinaus, und dass bei der Bildungsberatung und Berufswegeplanung ihre eigenen Interessen und
Kompetenzen im Zentrum stehen. Dafür müssen wir in Berlin bei der frühzeitigen Feststellung von Kompetenzen
und bei den Angeboten für passende Nachqualifizierungen noch besser werden. Wir müssen weg
von monatelangen Wartezeiten auf die Anerkennung von Abschlüssen, hin zu lückenlosen Anschlüssen.
Mittlerweile gibt es zahlreiche Angebote für Mentoring und Coaching in Berlin: Jobcoaches der Jobcenter,
Bildungsgangbegleiter*innen in den OSZ, Coaches von Bildungs- und Beratungsträgern, Lots*innen in Kammern
und Innungen – und nicht zu vergessen die vielen ehrenamtlichen Flüchtlingshelfer*innen und (ehemaligen)
Vormünder – Es ist höchste Zeit, dieses Lotsensystem besser zu verzahnen. Im Betrieb selbst bzw.
begleitend zu Ausbildung und Berufseinstieg braucht es Lots*innen und Mentor*innen mit Branchenkenntnissen,
die zugleich kultursensibel sind und auch zwischen Betrieben und Beschäftigten vermitteln können.
Sie könnten in Innungen angesiedelt sein oder auch von mehreren Betrieben im Verbund beschäftigt werden.
Für die zahlreichen Fragen, die sich im Alltag stellen, sind wir weiter dringend auf Menschen angewiesen,
die sich ehrenamtlich um Geflüchtete und andere neu zugewanderte Berliner*innen kümmern – und
die dranbleiben, auch wenn unbegleitete minderjährige Geflüchtete erwachsen werden oder wenn Geflüchtete
aus den Gemeinschaftsunterkünften in Wohnungen umziehen.
Vielfältige Teams können Unternehmen bereichern. Viele Berliner Unternehmen sind hier Vorreiter, fühlen
sich aber von der Politik allein gelassen. Wir wollen die Unternehmen bei dieser Aufgabe stärker unterstützen.
Wir setzen uns dafür ein, dass es in den Berliner Unternehmen Diversity Manager*innen gibt – allen
voran in den Berliner Landesbetrieben. Darüber hinaus finden regelmäßig Schulungen und Qualifizierungsmaßnahmen
(u.a. in Kooperation mit der VAK) zu interkultureller Kompetenz im Betrieb statt.
Viele Geflüchtete kommen aus Ländern mit einer unternehmerischen Kultur. In Berlin ist es für sie jedoch
schwierig, sich selbständig zu machen: Bundesagentur und Jobcenter fördern Selbständigkeit nicht in demselben
Maß wie die Vermittlung in abhängige Beschäftigung – und sie unterstützen Gründungswillige vor
allem in der Gründungsphase zu wenig. Finanzielle Förderung scheitert häufig am befristeten Aufenthaltsrecht.
Wir wollen mit der IBB und der BA neue finanzielle Förderinstrumente entwickeln, die auch eine Ko-
Finanzierung ermöglichen.
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6) Interkulturelle medizinische Teams
Das Gesundheitssystem kann von Einwanderung besonders profitieren: Einerseits kann geflüchtetes und
zugewandertes Fachpersonal dazu beitragen, den drohenden Pflegenotstand abzuwenden. Andererseits
sind Gesundheitsversorgung und Pflege eng an die sprachlichen und kulturellen Bedürfnisse der Patient*innen
und Pflegebedürftigen gebunden. Interkulturelle medizinische Teams können zu einer besseren gesundheitlichen
Versorgung beitragen – gerade auch für all diejenigen Menschen, die vor langer Zeit zugewandert
und hier alt geworden sind. Klar ist: Die Qualitätsstandards wollen wir hoch halten, das gebietet
schon allein die Patient*innensicherheit. Es braucht aber ein durchlässiges Ausbildungssystem, das mehr
Zugänge in den Beruf bietet.
Für Pflegeberufe schlagen wir ein gestuftes Landesprogramm interkulturelle Pflege vor, das Geflüchtete,
Migrant*innen, im Ausland angeworbene Fachkräfte und andere Interessierte in ihrer jeweiligen Lebenssituation
abholt, ihre vorhandenen Kompetenzen berücksichtigt, ihnen die Begleitung und zusätzliche sprachliche
und ggf. schulische Förderung bietet, die sie jeweils brauchen und ihnen ermöglicht, auf verschiedenen
Stufen entweder in den Beruf einzusteigen oder eine weitere Fachausbildung anzuschließen bzw. Schulabschlüsse
nachzuholen. Gute Erfahrungen mit solchen gestuften Angeboten macht bereits jetzt die Berufsfachschule
Paulo Freire. Für ein solches durchlässiges Bildungssystem müssten mindestens die Stufen
Pflegebasiskurs, Sozialassistenz, Pflegehelfer*innen- und Pflegeausbildung angeboten werden. Eine individuelle
Begleitung während der Ausbildung und beim Berufseinstieg hilft Ausbildungsabbrüche zu verhindern
und sichert den Ausbildungserfolg. Entsprechende Vereinbarungen mit der Ausländerbehörde, der BA
und dem BAMF sollen künftig gewährleisten, dass Ausbildungsverträge bzw. Ausbildungsvorbereitung dort
zuverlässig den Aufenthalt sichern.
Die Wartezeiten für die Anerkennung von Abschlüssen gerade bei Gesundheitsberufen sind viel zu lang. Das
LAGeSo muss ein Konzept vorlegen, wie die Prozesse bei der Anerkennung medizinischer Berufe beschleunigt
werden können. Es darf nicht mehr vorkommen, dass zugewanderte Krankenpfleger*innen oder Radiologieassistent*
innen eine neue Ausbildung beginnen, weil die Wartezeiten für eine Anerkennung bzw. für
eine entsprechende Anpassungsqualifizierung mehr als ein Jahr betragen.
Viele der Menschen, die nach Berlin geflohen sind, haben vor und während ihrer Flucht traumatische Erfahrungen
gemacht und brauchen psychotherapeutische Behandlung. Dabei müssen wir neue Wege gehen,
denn das bezirklich organisierte Regelsystem ist längst nicht so aufgestellt, dass es den steigenden Bedarf
decken kann. Denn für viele geflüchtete Menschen beginnt die Verarbeitung ihrer Traumata erst jetzt, wo
sie in Berlin ihren dauerhaften Lebensort haben. Die Krankenkassen finanzieren weiterhin keine Sprachmittlung
und es gibt zu wenige niedergelassene Psychotherapeut*innen, die Kenntnisse in den entsprechenden
Sprachen haben.
Das Vivantes-Zentrum für transkulturelle Psychiatrie in Reinickendorf, das bereits mit interkulturellen
medizinischen Teams arbeitet, soll mit der zentralen psychiatrischen Clearingstelle an der Charité zu
einem Berliner Kompetenzzentrum für interkulturelle psychosoziale Versorgung ausgebaut werden.
Ergänzend dazu soll beim LAGeSo ein zentraler Dolmetscherpool für psychosoziale Sprachmittlung
etabliert werden. Dort sollen niedergelassene Ärzt*innen ebenso wie die landesweiten Kompetenzzentren
oder die Psychiatrischen Institutsambulanzen der Bezirke sowohl auf spezialisierte Sprachmittler*innen
zugreifen als auch Honorarrechnungen für entsprechende Sprachmittlung bei Therapien einreichen
können.
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7) Gemeinsam wohnen im Quartier
In allen Bezirken werden derzeit neue modulare Unterkünfte für Geflüchtete (MUF) geplant und errichtet.
Wir haben uns von Anfang an dafür eingesetzt, dass dort gemeinsames Wohnen von Anfang an ermöglicht
wird, damit Alteingesessene und Neuzugezogene möglichst schnell Nachbarn werden. Aus demselben
Grund befürworten wir es, wenn statt weniger großer mehrere kleinere MUFs realisiert werden. Mehrere
Bezirke haben mittlerweile in diesem Sinne alternative und integrationsfreundliche Konzepte entwickelt.
Wir erwarten, dass der Senat solche Vorschläge ernsthaft prüft und wo immer möglich unterstützt. Die Bauträger
fordern wir auf, auch für die Nachnutzung Wohnungen für große Familien einzuplanen. Viele geflüchtete
Familien haben auf dem Wohnungsmarkt derzeit kaum eine Chance, eine Wohnung zu finden.
Wenn Integration gelingen soll, müssen auch die Quartiere um die MUFs herum mit städtebaulichen und
sozialen Qualitäten gestaltet werden. Es braucht Frei- und Grünflächen, Spielplätze, soziale und kulturelle
Infrastruktur inklusive der Förderung von Exilkünstler*innen, eine barrierefreie Gestaltung, Geschäfte,
Restaurants und Cafés, so dass Begegnung möglich wird und ein praktischer Mehrwert für die gesamte
Nachbarschaft entsteht. Dem LAF liegen für jede Unterbringung sehr genaue Daten darüber vor, welche sozialen
Angebote vor Ort am dringendsten benötigt werden. Wir wollen, dass jedes neue MUF auch einen
Beitrag zur sozialen Infrastruktur leistet – ob das die öffentlich Kita, eine Arztpraxis oder das Nachbarschaftszentrum
im Erdgeschoss ist. Wir wollen mit den neuen Unterkünften zugleich in starke Sozialräume
investieren. So werden die Unterkünfte für Geflüchtete zu einer Chance für innovative Quartiersentwicklung.
Integration findet vor Ort im Sozialraum statt. Deshalb gehört das Geburtsdatenprinzip, das die Zuständigkeit
der Bezirke für Geflüchtete völlig unabhängig von ihrem tatsächlichen Lebensmittelpunkt verteilt, endlich
durch das Wohnortprinzip ersetzt. Wir unterstützen den entsprechenden Beschluss des Rats der Bürgermeister
und erwarten, dass die Sozialverwaltung umgehend einen Stufenplan für die Umstellung aufs
Wohnortprinzip vorlegt.
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